In seinem historischen Sachbuch „Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen“ erzählt Simon Parkin von einem Gefangenenlager für deutsche Künstler im Zweiten Weltkrieg.

Simon Parkin legt mit „Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen“ ein spannendes Sachbuch vor

Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen-Buchtipp

England betrieb im Zweiten Weltkrieg ein ganz besonderes Gefangenenlager

Denkt man an die Irische See, dann tauchen vor dem geistigen Auge zunächst pittoreske Szenen auf. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein Stück Geschichte, das nicht einmal der idyllische Schein überblenden kann. In der Meeresstraße zwischen Großbritannien und Irland befand sich auf der sogenannten Isle of Man von 1940 bis 1944/45 unter King George VI. und Premierminister Winston Churchill ein Masseninternierungslager.

Die Insassen waren vor allem Künstler, Schriftsteller und Filmemacher

Das aus 33 Häusern zusammengesetzte Camp Hutchinson in der Hauptstadt Douglas beherbergte aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohene Männer im Altern von 16 bis 60 Jahren, die sich in Großbritannien niedergelassen hatten, darunter viele Juden. Ein erstaunlich hoher Anteil davon waren künstlerische Persönlichkeiten – von bildender Kunst, Musik und Literatur bis hin zu Film, Mode, Architektur, Philosophie, Religion, Archäologie u.v.m.

„Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen“ in deutscher Übersetzung

Das Sachbuch des britischen Journalisten Simon Parkin „The Island of Extraordinary Captives“ liegt dank der Übersetzer Henning Dedekind und Elsbeth Ranke nun erstmals in deutscher Sprache unter dem Titel „Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen – Deutsche Künstler in Churchills Lagern“ vor. Was Camp Hutchinson vom Holocaust oder President Roosevelts Internierungslagern im Pazifik unterscheidet und wie unter den Gefangenen dennoch eine Gesellschaft des interkulturellen Austausches gedeihen konnte, erörtert Simon Parkin faktisch und spannungsgeladen zugleich.

Man unterschied nicht unter tatsächlich Verfolgten und Nazi-Spionen

Da der britische Geheimdienst MI5 Angst und Paranoia schürte, als während des Zweiten Weltkriegs viele Deutsche und Österreicher nach Großbritannien geflüchtet waren, wurden tatsächlich Verfolgte und Nazi-Spione, die sich als Opfer ausgaben, ohne Gerichtsverfahren über einen Kamm geschert. Selbst jene, die sich öffentlich gegen die Nazis und deren Propaganda eingesetzt und Großbritannien wirtschaftlichen Nutzen gebracht hatten, wurden interniert. Simon Parkin beschreibt, wie die britische Regierung ihre Kategorien zur Klassifizierung vom Schweregrad des für sie empfundenen Verbrechens nach Belieben anpasste. Aber auch, wie Großbritanniens internationales Ansehen dadurch gefährdet wurde und die politischen Aktivistinnen Bertha Bracey und Helen Roeder für die Rechte und die Freilassung der Internierten kämpften.

Die Realität im Lager war hart, dennoch gab es Privilegien

Viele Flüchtlinge hatten den Eindruck, dass sie die harte Realität, vor der sie geflohen waren, wieder eingeholt hatte. Neben den politischen Konflikten geht Simon Parkin aber auch auf die Privilegien ein, die man ihnen in einem Konzentrationslager verwehrt hätte. Kommandanten wie Captain Daniel waren vor allem den zu Unrecht Inhaftierten wohlgesinnt und erlaubten ihnen, ihren Alltag selbst zu gestalten.

Von Kurt Schwitters über Max Reinhardt bis Ernst Stern

Dazu gehörte eine von den Internierten etablierte Kulturabteilung mit Vorlesungen und Veranstaltungen, die jeder unentgeltlich besuchen konnte. Von dieser profitierten besonders jene, deren künstlerisches Talent in der Gesellschaft kaum oder gar nicht anerkannt wurde, vom Dadaisten Kurt Schwitters bis hin zu Ernst Stern, einem Kollegen von Max Reinhardt und Noël Coward. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Beiträge von akademischen Professoren, Studenten oder Laien stammten. Einkaufen, Kochen, Badeausflüge, Feiern, Korrespondenzen mit Außenstehenden und der Empfang von Besuchen waren dabei inbegriffen. All das hatten sich etwa Angehörige der Arbeiterschicht unter normalen Umständen in dem Ausmaß nicht leisten können.

Simon Parkins Sachbuch liest sich beinahe wie ein Roman

Was Simon Parkins Buch trotz seines Umfangs so attraktiv macht, ist der narrative Schreibstil. Der Autor bleibt sachlich, ohne sich Eintönigkeit anmerken zu lassen. Vielmehr hat man das Gefühl, einen historischen Roman zu lesen. Dieses narrative Element, das Simon Parkin aus Dokumenten des Londoner National Archive wie z. B. den Berichten der Internierten, den Namenslisten, Tagebucheinträgen und der Lagerzeitschrift „The Camp“ zusammenbraut, ist hauptsächlich der Lebensgeschichte des eher unbekannten Malers und „Protagonisten“ Peter Midgley (geb. Fleischmann) geschuldet. Dies erweist sich zunächst als eine fragliche Entscheidung, die beim Leser auch durch die eingestreuten Anachronismen Irritation und Orientierungslosigkeit auslösen kann. Doch relativ bald wird ersichtlich, dass Peter unter den Internierten das Paradebeispiel für all die Unannehmlichkeiten ist, die ein zu Unrecht Inhaftierter über sich ergehen lassen musste.

Es kommen sowohl Opfer, als auch Täter zu Wort

Indem Simon Parkin gelegentlich auch andere Inhaftierte – d. h. nicht nur Opfer, sondern auch Täter – zu Wort kommen lässt, wirkt das Ganze abwechslungsreich. Der Leser kriegt eine konkrete Vorstellung davon, wie Kunst und Kultur den Überlebenswillen der Gefangenen beflügelten und wie dadurch neue Freundschaften entstehen konnten, die auch nach der Schließung des Camps andauerten, berufliche Vernetzungen im Kulturbereich erleichterten oder zuvor nie dagewesene ermöglichten. Sehr detailliert ausgeführt ist die teils humorvolle Atmosphäre im Camp beim Schaffen von Gemälden, Grafiken und Skulpturen, bei der Vorbereitung von Bühnenbildern für Theaterabende sowie bei archäologischen Exkursionen. Eine schöne Ergänzung sind die Fotografien vom Lagerleben und von den in den Lagern entstandenen Künstlerporträts. „Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen“ ist ein Buch, das auch eine zweite Lektüre wert ist.

ISBN 978-3-351-03998-1

576 Seiten

€ 30,00

eBook: € 19,99

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Christina Janousek

Geboren und aufgewachsen in Wien, studiert Christina Janousek, Jahrgang 1993, Vergleichende Literaturwissenschaft. Nachdem sie praktische Erfahrungen in Verlagen, einem Literaturverein und in einer Zeitungsredaktion sammeln konnte, hat sie ihre Liebe für das Schreiben entdeckt, mitunter auch creative writing für englischsprachige Zeitschriften. Zu ihren Interessen zählen in Vergessenheit geratene Autoren sowie moderne Interpretationen von Texten und Filmen im Theater.

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