Am Anfang von Doris Knechts „weg“ steht ein elterlicher Albtraum
Es ist ein elterlicher Albtraum, in den Doris Knecht ((Link zu Biographie)) ihre Hauptfiguren Heidi und Georg in ihrem Roman „weg“ versetzt: Lotte, ihre wilde, rothaarige Tochter, meldet sich nicht mehr. Sie geht nicht ans Telefon, sie antwortet auf keine Nachrichten, sie ist verschwunden. Zwar ist Lotte schon dreiundzwanzig und damit erwachsen und studiert in Berlin. Aber sie hat seit ihrer Pubertät eine von Drogen ausgelöste Psychose. Ihre Mutter Heidi leidet: „Es sind jetzt acht Tage, viel zu lang. Jetzt ist sie richtig in Sorge. Ihre Fingernägel sind abgekaut. Lotte hat nicht zurückgerufen, kein einziges Mal. Wenn sie jetzt Lottes Namen in der Anrufliste drückt, sagt ihr eine fremde Frauenstimme, dass der gewünschte Teilnehmer derzeit nicht erreichbar ist.“
Heidis und Georgs Tochter ist psychisch labil und damit in Lebensgefahr
Die Beziehung von Heidi und Georg ist kompliziert: Sie leben seit vielen Jahren getrennt. Heidi in ihrem „Kleinbürgerparadies bei Frankfurt“ und Georg auf dem österreichischen Land. Schon lange haben die beiden einander nichts mehr zu sagen. Doch jetzt gibt es kein Ausweichen mehr: Heidi und Georg müssen miteinander reden, es geht um Lotte. Beiden ist klar, dass die Tochter angesichts ihrer psychischen Probleme in Lebensgefahr schwebt. Eine Whatsapp von Heidi hat sie wohl noch gelesen. Die zwei anderen nicht mehr. Zuletzt war sie vor drei Tagen online, um 3.43 Uhr. Über eine Freundin Lottes findet die Mutter heraus, dass Lotte einen neuen Freund hat. Und – nach bangen Tagen – erfährt sie das Unglaubliche: Lotte ist verreist, angeblich: Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam.
Heidi ist noch nie geflogen. Für ihre Tochter fliegt sie einmal um die Welt
Was macht eine Mutter, wenn sie glaubt, ihre seelisch labile Tochter, die vermutlich ihre Medikamente gerade nicht, dafür aber irgendwelche Drogen schon nimmt, halte sich in Asien auf? Sie bucht sich einen Flug. Was zunächst logisch klingt, kommt umso überraschender, als Heidi für diese Entscheidung über sich selbst hinauswachsen muss. Denn Heidi ist in ihrem Leben noch nie geflogen. Sie war noch nie in der Fremde. Und dann gleich Vietnam. Aber, und hier offenbart sich ein wichtiger Bestandteil von Doris Knechts fulminanter Erzählkunst: Nicht nur Heidi überrascht, auch ihr Ex, Lottes Vater.
Sie begegnen Hippies und Aussteigern und machen sich grenzenlos Sorgen
Denn Georg, der als Restaurantbetreiber und Liebhaber einer anderen Frau eigentlich gar keine Zeit hat, lässt alles stehen und liegen, um gemeinsam mit der Mutter seiner Tochter auf der anderen Seite der Weltkugel nach Lotte zu suchen. Heidi und Georg werden auf Mopeds durch quirlige asiatische Städte flitzen. Sie werden auf einsamen Inseln rothaarige Frauen mit ihrer Tochter verwechseln. Sie werden Hippies, Aussteigern und Ureinwohnern begegnen. Sie werden sich grenzenlos Sorgen machen.
Sie überwinden Ängste und lernen, einander mit neuen Augen zu sehen
Aber sie werden auch Ängste überwinden und sie, die suchenden Eltern, werden einander mit neuen Augen sehen lernen: „In seinem Gesicht sieht sie Falten, wo er früher keine hatte. Aber das Lächeln ist noch das gleiche. Das Lächeln erkennt Heidi sofort. Dieses Lächeln zündet gleich in ihr, wühlt irgendwo unter der Oberfläche herum. Sie hat es natürlich immer wieder mal gesehen in den letzten Jahren, aber jetzt eben schon eine längere Zeit nicht mehr.“
Die Reise wird für Heidi und Georg zu einer Abenteuerreise zu sich selbst
Die Reise auf der Suche nach Lotte wird für Heidi und Georg zu einer Abenteuerreise zu sich selbst. Und wunderbar nebenbei bildet Doris Knecht mit diesem modernen, bei allem Ernst mit Humor und großem Einfühlungsvermögen geschriebenen Roman, auch große Teile unseres gegenwärtigen Lebens ab. Wie wir jeden Tag aufs Neue lieben und hoffen, wie wir versagen und über uns hinauswachsen, auch das beschreibt „weg“, dieser kluge Roman über Menschen in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, auf überzeugende Art und Weise.