Frau Buchzik, in Ihrem Hörbuch „Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können“ befassen Sie sich mit der aktuellen Situation, in der die Pandemie zu einer Spaltung der Gesellschaft führt. Was ist gerade los in unserem Land?
Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft gespalten ist – oder jedenfalls nicht gespaltener, als sie es vor der Pandemie war. Verschwörungsgläubigkeit, Antisemitismus oder Impfgegnerschaft sind in Deutschland nichts Neues. Die Pandemie hat nicht auf magischem Wege eine Massenradikalisierung erzeugt, sondern sie legt offen, was ist – und sie wirkt als Beschleuniger.
Fast jeder hat mittlerweile einen Freund oder eine Verwandte, die krude Thesen äußern. Wie konnte es kommen, dass plötzlich ganz gewöhnliche Menschen radikale Thesen vertreten?
Die Radikalisierungsforschung zeigt, dass sich radikale Menschen nicht vom gesellschaftlichen Durchschnitt unterscheiden. Sie sind also weder psychisch kränker noch weniger gebildet oder sozial abgehängter. Die Wahrscheinlichkeit, sich zu radikalisieren, steigt sogar mit den Privilegien. Wer zeitliche und finanzielle Ressourcen und einen hohen Bildungsgrad mitbringt, ist in radikalen Gruppen gern gesehen, weil er sich in gleich mehrerlei Hinsicht ausbeuten lässt. Vor allem aber ist er daran gewöhnt, von der Politik mitgedacht zu werden. Deswegen lässt er sich auch leichter davon überzeugen, dass seine Meinung und seine Bedürfnisse ganz besonders wichtig wären und er keine Rücksicht auf andere nehmen müsste.
Wenn wir die sogenannten Querdenker analysieren: Kann man sie einer bestimmten Schicht zuordnen? Lässt sich diese Gruppe irgendwie definieren?
Es gibt noch nicht viele wissenschaftliche Erkenntnisse zu Querdenkern. Eine soziologische Studie von Nadine Frei und Oliver Nachtwey zeigt aber, dass die Proteste im Südwesten eher von der esoterischen Szene dominiert werden, während die Proteste im Osten stark von rechts geprägt sind. Wir sehen also, dass unterschiedliche Gruppen erfolgreich die Pandemie instrumentalisieren, um eigene Interessen zu stärken. Gerade Rechtsradikale sind ja routiniert in der Organisation von Protesten, um öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren.
Sie sagen, dass radikal „nichts Schlechtes“ sei. Wie meinen Sie das?
„Radikal“ stammt von „radix“, dem lateinischen Wort für „Wurzel“. Wer radikal ist, will also Probleme nachhaltig lösen, sie sozusagen „mit der Wurzel“ aus dem Boden reißen. Auch jemand, der sich für Menschenrechte, für Gleichberechtigung oder für Klimaschutz einsetzt, ist nach dieser Definition radikal. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass er auch gewalttätig oder demokratiefeindlich wäre.
Sie bezeichnen Radikalisierung als Heldengeschichte. Warum?
Radikalisierung hat viele Gesichter. Manche hetzen bei Twitter gegen Politikerinnen oder Wissenschaftler und halten sich dabei für Widerstandskämpfer. Manche schließen sich einer esoterischen Sekte an, weil sie glauben, dass deren Anführer für Weltfrieden sorgen wird. Andere planen Anschläge, weil sie glauben, vermeintliche Ungläubige auslöschen zu müssen. Was all diese Menschen eint, ist der Wunsch, sich das eigene Leben als Heldengeschichte zu erzählen. Sich als Auserwählte zu fühlen, die unsterblichen Ruhm erlangen werden.
Sie haben eine Taktik radikaler Menschen enttarnt: Sie verbergen sich hinter Werten, die viele teilen …
Schnell wachsende radikale Gruppen haben professionelle Infrastrukturen entwickelt, um möglichst viele Gesellschaftsbereiche zu unterwandern. Sie bringen zum Beispiel Apps für Kinder heraus oder betreiben Nachhilfeinstitute. Sie gründen Parteien oder Stiftungen. Sie bewerben vermeintliche Wellnesskuren oder Angebote zur Drogenrehabilitation. Ihre Missionare sind bereit, wirklich jede Rolle zu spielen, um neue Mitglieder anzuwerben. Sie täuschen ihrem Gegenüber vor, die gleichen Werte zu vertreten und einen ähnlichen Lebenslauf zu haben. Je ähnlicher uns nämlich jemand ist – oder zu sein scheint –, desto eher sind wir geneigt, ihm zu vertrauen. Auch Verkäufer machen von diesen „Chamäleon-Effekt“ Gebrauch, oder Politiker, die im Wahlkampf je nach Publikum sehr unterschiedliche Dinge versprechen.
Könnten Sie weitere Beispiele für Manipulationstechniken nennen?
Ein Klassiker ist Scheinautorität. Die meisten von uns werden ja, wenn sie ein juristisches Problem haben, eher Rat bei einem Anwalt suchen als beispielsweise bei einem Bäcker. Der Anwaltstitel sorgt bei uns automatisch für einen Vertrauensvorschuss. Diesen Automatismus machen sich auch radikale Akteure zunutze. Sie behaupten zum Beispiel – je nach Zielgruppe –, bestimmte Studienabschlüsse zu haben, eine Reinkarnation von Jesus zu sein oder durch Visionen Geheimwissen erlangt zu haben. Diese Autorität reichen sie indirekt auch an ihre Anhänger weiter, denn wer zu den wenigen Menschen zählt, die zum Beispiel einen reinkarnierten Jesus erkennen, der fühlt sich natürlich auch auserwählt.
Bitte sagen Sie noch etwas zu Verschwörungstheorien – wie hängen sie mit radikalen Tendenzen zusammen?
Verschwörungsglauben ist eine von vielen Ausdrucksformen von Radikalisierung. Studien zeigen hier aber eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Rechtfertigung oder Ausübung von Gewalt. Viele Rechtsterroristen der jüngeren Vergangenheit, beispielsweise die Täter von Halle und Hanau, haben sich auf Verschwörungserzählungen berufen.
Welche Rolle spielen das Internet, die sozialen Medien?
In den selbsternannten „Sozialen“ Medien sorgen Algorithmen dafür, dass Ausgewogenes in die Unsichtbarkeit rutscht, während extreme Inhalte die ganz große Bühne bekommen. Die Politik beschließt zwar seit Jahren immer neue Gesetze, aber die Plattformen werden bis heute nicht konsequent zur Rechenschaft gezogen, wenn Hassinhalte teilweise über Jahre stehen bleiben und Hilferufe von Nutzern ignoriert werden. Solange die Politik nicht dafür einsteht, dass das Grundgesetz auch online gilt, bleiben Soziale Medien eine Spielwiese für Radikale.
Und wie sollen wir dem Hass im Netz begegnen?
Gegenrede ist sinnlos bis gefährlich. Sie wird von den Algorithmen nämlich nicht als Kritik oder Warnzeichen registriert, sondern nur als Interaktion. Inhalte mit viel Interaktion werden automatisiert aufgewertet, weil sie Menschen auf der Plattform festhalten, und je länger jemand online ist, desto mehr Werbeanzeigen kann man ihm zeigen. Gegenrede führt also dazu, dass problematische Inhalte eine noch größere Reichweite bekommen. Wenn wir jemandem wirklich helfen wollen, der zur Zielscheibe von Trollen wird, sollten wir also nicht blind drauflos kommentieren. Stattdessen sollten wir die Person direkt kontaktieren und fragen, was sie braucht. Vielleicht können wir sie dabei unterstützen, justiziable Inhalte zu sichern und zur Anzeige zu bringen. Vielleicht braucht sie Hilfe bei der Suche nach einer Anwältin. Vielleicht braucht sie sogar einen Platz zum Schlafen, weil ihr Zuhause nicht mehr sicher ist. Natürlich kann es auch sein, dass sie sich Gegenrede wünscht, aber das sollten wir erst in Erfahrung bringen, statt davon auszugehen, dass unsere erste Idee von Hilfe auch die richtige ist.
Was können Medien besser machen?
Wichtig wäre in meinen Augen eine Abkehr von False Balance-Berichterstattung, also kein gleichwertiges Nebeneinanderstellen der Aussagen etwa eines impfkritischen Heilpraktikers und einer Virologin. Es braucht auch grundsätzlich mehr wissenschaftliche Expertise in den Redaktionen, damit nicht immer wieder Ideologen mit Experten verwechselt werden.
Was kann – auf der anderen Seite – die Politik besser machen?
Die Politik sollte sich nicht länger hinter kosmetischen – und billigen – Maßnahmen wie der Bereitstellung von Argumentationsleitfäden verstecken. Wir brauchen seriöse Überblicksarbeiten über die radikale Landschaft Deutschlands. Wir brauchen in den Schulen Aufklärungskampagnen, wie Manipulation funktioniert und wie man sie erkennen kann. Wir brauchen Forschung zu wirksamen Deradikalisierungsstrategien und Langzeitfinanzierungen für Beratungsstellen und Ausstiegsangebote.
Ist es okay, wenn wir den Kontakt mit Menschen abbrechen, deren radikales oder Verschwörungsgerede uns auf die Nerven geht?
Selbstschutz kommt immer zuerst. Wir müssen uns aber bewusst machen, dass jeder Kontaktabbruch die Radikalisierung unseres Gegenübers befeuert und dass es viele gute Strategien gibt, um den Druck aus der Situation zu nehmen und die Beziehung so zu verbessern, dass es keinen Kontaktabbruch mehr braucht.
Sie nennen etliche Strategien, wie wir Menschen, die in absurde Thesen abgedriftet sind, noch zurückholen können. Könnten Sie bitte erklären, wie das funktionieren kann?
Die drei wichtigsten Punkte sind: Allianzen, Faktenbingo-Stopp und Grenzen. Im ersten Schritt geht es darum, so viele Menschen wie möglich an Bord zu holen. Gemeinsam lässt sich besser verstehen, welche Vorteile die Radikalisierung für die Person im Alltag bietet. Erst dann können wir gute Alternativangebote entwickeln. Im zweiten Schritt braucht es eine konsequente Abkehr vom Faktenbingo, also vom Argumentieren und Diskutieren. Wenn wir zum Beispiel einem Raucher erklären, dass Rauchen nicht gut für die Gesundheit ist, wird er dann seine Zigaretten entsorgen und uns für die Aufklärung danken? Wir müssen für unser Gegenüber keine Fakten wiederkäuen, denn es geht nicht um Fakten, sondern um Gefühle. Im dritten Schritt sollte ein klar begrenzter Raum für die radikale Ideologie geschaffen werden – und für unsere Meinung dazu. Nicht nur wir fühlen uns nämlich mit belastenden Inhalten geflutet, sondern auch unser Gegenüber. Eine Möglichkeit ist es, eine Zeit in der Woche festzulegen, in der mal der eine, mal der andere von seinen Überzeugungen erzählen darf und ihm nicht widersprochen wird, jedenfalls solange keine persönlichen oder juristischen Grenzen überschritten werden. Außerhalb dieser Zeiten aber geht es ausschließlich um andere Themen. Das hilft beiden Seiten, sich daran zu erinnern, dass die radikale Person mehr ist als ihre Ideologie.
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