„Wenn Martha tanzt“ ist der Bauhaus-Roman des Jubiläumsjahrs
Dies ist der Roman zum Bauhaus-Jahr 2019. Und allein deshalb lohnt es sich für alle kunstinteressierten Leser*innen, Tom Sallers „Wenn Martha tanzt“ zu lesen. Aber diese Geschichte bietet dank ihrer beeindruckenden Hauptfigur noch viel mehr: Die junge Martha, geboren 1900 in Pommern als Tochter eines Kapellmeisters, hört Töne auf eine völlig andere Weise als andere Menschen. Zwar ist sie nicht in der Lage zu sagen, ob ein H höher ist als ein C, aber sie hört das H als Dreieck und das F als Viereck.
Marthas faszinierendes Talent: Sie kann Musik sehen
Von der gesamten Familie für unmusikalisch gehalten, ist es ihr Onkel Wolfgang, der dieses faszinierende Talent entdeckt: Martha kann Musik sehen. Fortan überträgt das mit sympathischer Sturheit ausgestattete Mädchen das, was es hört, in Zeichnungen, die außer ihm keiner zu deuten vermag. Aber tief in Marthas Seele steckt der zarte Keim einer Ahnung davon, dass es doch noch mehr geben muss – eine künstlerische Ausdrucksform, die ganz und gar zu ihr passt. Aber wie soll sie sie finden und wo soll sie nach ihr suchen?
Die Fotografin Ella wird für Martha die Liebe ihres Lebens
Wolfgang hat die zündende Idee, und so führt Marthas erster Schritt aus der pommerschen Enge ins Lehrerinnenseminar. Hört sich nicht spektakulär an? Die Möglichkeiten für junge Frauen, die Kunst zum Lebensinhalt zu machen, sind zur Zeit des Erstens Weltkriegs und danach beschränkt. Doch eines Tages erfährt Martha von der neu gegründeten Kunstschule Bauhaus. Sie setzt sich in den Zug und fährt 700 Kilometer. Am Bahnhof in Weimar steigt sie aus und lernt die sechzehn Jahre ältere Fotografin Ella kennen. Es wird die Liebe ihres Lebens, jedenfalls für Martha. Ob diese Liebe auch in Erfüllung geht? Ella wird sich später mit einem wesentlich älteren Nationalsozialisten verheiraten. Aber kann eine solche Ehe eine Liebe unter Künstlerinnen verhindern?
Martha lernt Aktzeichnen, geht ins Kino und sie wehrt sich
Martha stellt sich Walter Gropius vor, dem Direktor der Bauhaus-Kunstschule. Ihre Ausgangsposition ist bescheiden: Sie hat das Lehrerinnenseminar nicht abgeschlossen, sie hat keinen Lebenslauf dabei und auch kein polizeiliches Leumundszeugnis. Außerdem ist der neue Studentenjahrgang bereits voll. Martha wird trotzdem angenommen. Warum, das bleibt lange ein Geheimnis. Und Martha geht weiter ihren Weg: Sie lernt das Aktzeichnen und die Anatomie nackter Körper kennen. Sie besucht zum ersten Mal in ihrem Leben ein Lichtspielhaus. Sie gerät in politische Auseinandersetzungen zwischen Antisemiten, Völkischen und Verteidigern der Freiheit. Sie stellt fest, dass der größte Asket der Bauhaus-Schule, Johannes Itten, in einer prachtvollen Villa lebt. Derweil ergreift die Inflation um sich. Der Alltag in der Weimarer Republik verschärft sich.
In der Bühnenwerkstatt macht Martha eine Entdeckung
Die Leitung der Bauhaus-Schule möchte einen Großteil der eingeschriebenen Studentinnen in die Weberei versetzen. Martha wehrt sich. Sie erzählt Itten von der Musik, den Tönen und Formen, von ihrer inneren Bewegtheit. „Doch irgendetwas fehlt“, sagt sie. „Der entscheidende Teil, der alles verbindet. Vielleicht kann ich ihn in der Bühnenwerkstatt finden. Was meinen Sie?“ Itten mustert sie ernst. „Es ist zweifelsohne eine besondere Gabe, über die Sie verfügen. Doch das Bauhaus ist voller Menschen mit speziellen Talenten. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, sie bei jedem Einzelnen zu erkennen und zu fördern. Ja, ich denke, die Bühnenwerkstatt ist ein guter Ort für Ihre Suche.“
Der Ausdruckstanz ist die Kunstform, nach der sie so lange suchte
Damit soll er Recht behalten. Denn mithilfe von Gertrud Grunow am Klavier, entdeckt Martha die künstlerische Ausdrucksform, nach der sie so lange gesucht hat: Marthas Instrument ist der Körper, ihr Körper. Und ihre Kunst ist der Tanz. Der Ausdruckstanz. Außerdem entdeckt sie noch etwas anderes Geheimnisvolles: „Die Art von Liebe … die nicht sein darf.“
Ein Tagebuch mit Zeichnungen von Klee und Kandinsky wird versteigert
Marthas faszinierende Geschichte packt Tom Saller in eine Rahmenhandlung, die im New York des Jahres 2001 spielt und in der ein Nachfahre Marthas Millionär wird, indem er ein Tagebuch mit Zeichnungen bekannter Künstler wie Paul Klee, Wassily Kandinsky und Oskar Schlemmer bei Sotheby’s versteigert. Am Ende verbinden sich beide Geschichten – die von Martha und die des Versteigerungsmillionärs – ausgerechnet am 11. September 2001 zu einer einzigen.
Ein märchenhafter, aber kein bisschen kitschiger Künstlerroman
Das klingt märchenhaft und ist es auch ein wenig. Dennoch macht die Lektüre dieses – übrigens nicht kitschigen – Künstlerinnenromans Freude. Seine von kurzen Sätzen getragene Sprache hat etwas Eigenes, seine liebevolle Genauigkeit betört und ganz nebenbei erleben wir eine aufgewühlte Epoche deutscher Geschichte hautnah und noch einmal ganz anders.