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Über einen hervorragenden Roman von Martin Suter und literarischen Vollschrott

Eine Kritik der Kritik

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Ich gestehe, ich bin verwirrt: Habe ich doch vor Tagen in einer der großen Tageszeitungen unseres Landes gelesen, dass es sich bei Martin Suters neuem Roman „Montecristo“ um ein hervorragendes Stück Literatur handelt, ein großartiges Wunderwerk der Konstruktion.

Meine Verwirrung rührt nicht daher, dass ich finde, dass dies nicht stimmt – sicherlich ist „Montecristo“ nicht Suters allerallerbester Roman, aber es ist doch eine mit der Suterschen, wahrhaft bewundernswerten Leichtigkeit geschriebene Geschichte, handwerklich blitzsauber ngearbeitet, spannend, überraschend und unterhaltend.

Verwirrt bin ich, weil ich in anderen Rezensionen auch völlig anderes erfahren habe: Einer der großen Radiosender unseres Landes etwa hat sich durch den Roman gequält, findet die Figuren entsprächen dem langweiligsten Klischee und beantwortet die selbst gestellte Frage, ob Martin Suter ein guter Schriftsteller sei mit Nein.

Ja was denn nun?, frage ich mich: Ist Martin Suter nun ein Genie oder eine Vollniete? Da stimmt doch was nicht! Ich könnte nun meine Recherche ausdehnen, und mir ansehen, was die Literaturliebhaber in den Foren und Communitys über „Montecristo“ schreiben. In aller Regel wird da noch mehr vom Leder gezogen – positiv wie negativ. Dazu habe ich aber keine Lust, und zwar aus einem einfachen Grund: Ich fühle mit. Sowohl, wenn jemand in der Öffentlichkeit hochgejubelt wird, als auch, wenn er niedergemacht wird. Beides ist meist nicht gerechtfertigt. Dazu eine kleine Geschichte:

Als Schüler, also einige Jahre bevor ich anfing, Bücher zu schreiben, war ich mal Praktikant bei einer Zeitung. Weil ich mich schon damals für Kultur interessierte, schickte man mich zu einer Ausstellungseröffnung in dem Dorf, in dem ich wohnte. Da hatte ein Malermeister aus unserem Dorf in seinen Räumen Aquarelle ausgestellt, die er selber gemalt hatte. Ich dachte, dass ein Kulturjournalist kritisch sein muss und machte mich begeistert an die Arbeit: Zerlegte die Ausstellung mit Scharfsinn und beeindruckenden Worten und kam zu einem Fazit, das sinngemäß darauf hinauslief, dass die Ausstellung poplig sei. Stark und gut fühlte ich mich dabei. Als Journalist muss man doch die Wahrheit schreiben und das heißt: unabhängig und kritisch sein!

Am Tag, nachdem meine Besprechung abgedruckt worden war, lief ich dem Malermeister über den Weg. Er sah schlecht aus. Vermutlich hatte er die halbe Nacht nicht geschlafen. Er fragte mich, warum ich so negativ über seine Ausstellung geschrieben hätte. Dies sei für ihn das erste Mal, dass er seine Bilder ausstelle. Er habe es in seinen eigenen Räumen gemacht. Er habe sich so sehr darauf gefreut, den Menschen seine Bilder zu zeigen. Die Ausstellung sei im Übrigen auch gar nicht so poplig wie ich geschrieben hätte – viele Menschen hätten ihm gesagt, dass sie begeistert seien und sich schon auf seine nächste Ausstellung freuen würden.

Ich war schockiert. Erst in diesem Augenblick realisierte ich, dass ich nicht die Wahrheit geschrieben hatte, sondern nur meine persönliche Meinung. Dass ich außerdem nicht nur über Bilder geschrieben hatte, sondern über einen Menschen. Dass meine Worte zutiefst verletzend gewesen waren. Mir wurde bewusst, dass ich all das Kritische, was ich da am Computer in meinem geschützten Zuhause über diese Ausstellung formuliert hatte, diesem kunstbegeisterten Mann niemals ins Gesicht gesagt hätte. Weil es verletzend war und weil es den Menschen und seine Begeisterung für Kunst mit Füßen trat.

Nun ist Martin Suter kein Malermeister aus einem kleinen Dorf, sondern Platz 2 der Bestsellerliste und einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Man könnte also sagen: Das muss er aushalten, dass er auch mal niedergemacht wird. Muss er das wirklich? Vielleicht. Aber müssen wir anderen, die wir uns über das, was jemand in seiner Begeisterung für Literatur, Kunst, Musik, Sport, für was auch immer, schafft, öffentlich äußern nicht stets daran denken, dass da ein Mensch hinter dem Werk steht? Wäre es nicht besser, wir würden, ehe wir unsere Meinung im Internet, in der Zeitung, im Radio, im Fernsehen äußern, überlegen, ob wir genau das, was wir da äußern diesem Menschen auch direkt ins Gesicht sagen würden? Vielleicht würden wir dann etwas vorsichtiger formulieren. Vielleicht würde es auch nicht passieren, dass der eine Experte etwas als großartiges Wunderwerk und der andere es als Schrott bezeichnet.

P.S.: Ich meine, dass dieser Trick, sich vorzustellen, ob man das, was man im Schutz der Öffentlichkeit äußert, der betroffenen Person direkt ins Gesicht sagen würde, auch außerhalb der Kulturkritik ein guter Maßstab für ein Miteinander sein kann. Ich denke da an Cyber- und andere Formen des Mobbings.

P.P.S.: Martin Suter ist selbstverständlich ein guter Schriftsteller. Millionen Leser können nicht irren.

P.P.P.S.: Haben Sie schon von dem stilistisch glänzenden Kolumnisten gehört, der im Jahresabstand literarisch-humoristische Wunderwerke veröffentlicht, zuletzt den hervorragenden Roman „Maibock“?

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<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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