Es ist ja so im Leben: Zunächst sucht man jahrelang nach einem Menschen, den man lieben kann und den man so außergewöhnlich und lecker findet, dass man eigentlich nichts anderes mehr tun möchte, als ihn ohne Unterlass anzuhimmeln. Hat man diesen Menschen endlich gefunden, bekommt man Kinder.
Plötzlich hat man fast keine Zeit mehr fürs Anhimmeln. Dafür sind jetzt die Kinder da. Die heißen dann zum Beispiel Leonhard, Isabella und Elsa und verbringen die Tage damit, Dinge zu tun, von denen man gar nicht so genau weiß, ob man sie gut findet. Zum Beispiel lesen die Kinder Bücher.
Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Man selbst liest ja auch gerne. Anfangs freut man sich sogar, wenn man beobachtet, dass die Kinder – wie man selbst es auch tut – neben ihren Betten riesige, teils gefährlich schiefe Türme aus Büchern bauen; dass sie auf ihren Nachtkästchen Bücherberge aufstapeln und dass sie ihre Bücher überall im Haus herumliegen lassen. Man denkt sich: Siehst du, habe ich alles richtig gemacht – sie lesen, die lieben Kleinen!
Man denkt dies unter anderem, weil Lesen ja angeblich schlau macht. Jedenfalls sagen Gymnasiallehrer, Buchhändler und Hirnforscher, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ein Kind, das in der Grundschule viel und gerne liest, einmal auf dem Gymnasium Erfolg haben wird. Wenn man schon nicht von dem Menschen träumt, den man sich zwecks Anhimmelung vor Jahren geangelt hat, dann wird man ja wohl wenigstens davon träumen dürfen, dass das eigene Kind es mal aufs Gymnasium schafft. Träumen wird ja wohl erlaubt sein!
Aber will man wirklich, dass das eigene Kind alles kurz und klein liest? Dass es nichts anderes mehr tut, als zu lesen? Dass es einen nicht hört, wenn man es mit leicht zu beantwortenden Fragen konfrontiert wie „Kommst du zum Abendessen?“ Pause. „Hallo! Kommst du? Abendessen!“ Und so weiter.
Doch das ist nicht alles: Neben dem Suchtverhalten gibt es da noch ein weiteres Problem. Ginge es nur um die schiere Menge an Büchern, die in einem Haushalt verzehrt werden, könnte man ja noch darüber hinwegsehen, könnte man praktische Lösungen finden: Man könnte hin und wieder den Schneepflug-Traktor des Nachbarn ausleihen und damit Schneisen durch die Flure des Hauses schlagen. Dann würde man bei schmalem Schritt durchaus noch von der Küche zur Toilette kommen – auch ohne eine Freeclimber-Lizenz.
Aber geht es nicht auch darum, WAS die Kinder lesen? Isabella zum Beispiel liest derzeit die Bis(s)-Saga. Isabella wird bald 11. Und eigentlich ist es auch nicht richtig, wenn ich sage, sie liest die Bis(s)-Serie – es ist so, dass sie sie verschlingt. Mit roten Wangen liegt sie stundenlang im Bett und liest dieses Vampirzeugs. Darf ich hier mal kurz einige Passagen aus „Bis(s) zum Ende der Nacht“ zitieren:
„Er hatte die schönste Seele der Welt, sie war noch schöner als sein funkelnder Verstand, sein unvergleichliches Gesicht, sein göttlicher Körper. […] Ich konnte es immer noch nicht fassen, wie vollkommen sein Körper war – weiß, kühl und glatt wie Marmor. Ich ließ meine Hand über seine steinharte Brust wandern, fuhr über seinen flachen Bauch und gab mich dem Staunen hin. […] Vorsichtig stieß ich mit der Zungenspitze gegen seine spiegelglatte Lippe, und er seufzte. […] Warum auch immer, er legte seine Lippen wieder auf meine und ergab sich mit einem Stöhnen.“
Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn ich lese, was meine Tochter da so liest, da wird auch meine Brust steinhart, da gebe auch ich mich dem Staunen hin, da entweicht auch mir ein Stöhnen. Meine Frau Helena belächelt mich dafür. Sie meint, das sei doch alles harmlos. Womit sie natürlich Recht hat.
Als die Bis(s)-Bella das erste Mal Sex mit dem Bis(s)-Edward hat (zum Glück erst nach der Hochzeit!), erfährt der besorgt seiner Tochter hinterherlesende Vater darüber lediglich: „Es war alles einfacher gewesen, als ich gedacht hatte; wir passten zueinander wie zwei Teile eines Puzzles, die zusammengehörten. Ich hatte eine heimliche Genugtuung verspürt – wir harmonierten körperlich ebenso wie in jeder anderen Hinsicht.“ Ziemlich Lego-technisch dieses erste Mal, fast schon „Shades-of-Grey“-haft, nicht wahr?
Ich, trotzdem im Angriffsmodus gegen meine Frau: „Klar ist das harmlos!“, belle ich Helena an. „Aber ist das gut, wenn Isabella sowas liest, mit 11, so technisch, aseptisch beschriebenen Sex?
„Na, was sollte sie denn deiner Ansicht lesen?“
„Literatur!“, rufe ich.
„Das ist doch Literatur“, meint Helena ruhig.
„Na ja“, sage ich und meine Stimme ist schon nicht mehr Dobermann, sondern eher so Pudel. Ich schaue Helena an, mein Schauen wechselt in ein Anhimmeln. Und so sage ich jetzt nichts mehr, runzle ein wenig die Stirn und schon nach Sekunden gelingt es mir, mich nur auf das eine zu freuen: Dass ich am Abend wieder bei Isabella im Bett liegen und ihr aus Siegfried Lenz‘ „Deutschstunde“ vorlesen werde. Ich habe dieses Buch seit meiner Schulzeit nicht mehr gelesen. Es überrascht mich auf beinahe jeder Seite. Zwar sehe ich bei Isabella, der ich vorlese, nicht die roten Wangen, die sie bekommt, wenn sie „Bis(s) zu was auch immer liest“. Aber sie hört aufmerksam zu. Und wir haben gute Gespräche über diesen Roman. So lange dies so bleibt, werde ich die Kinder nicht zum Fernsehen zwingen.
P.S.: Neben Stephenie Meyers „Bis(s)“-Serie empfiehlt meine Tochter Isabella derzeit auch Kerstin Giers Trilogie „Rubinrot“, „Saphirblau“ und „Smaragdgrün“ sowie die „Silber“-Saga. Meine Tochter Elsa (8) bricht eine Stange für „Die Karlsson-Kinder“ und mein Sohn Leonhard (6) legt Ihnen „Anton taucht ab“ ans Herz.