Mr. Whitaker, in Ihrem neuen Roman „In den Farben des Dunkels“ geht es um Mädchen, die verschwinden und einem Verbrechen zum Opfer fallen. Das klingt nach einem Spannungsroman. Bei näherer Betrachtung jedoch steckt mehr dahinter. Wie sehen Sie das?
Das ist eine überraschend schwierige Frage! Ich denke, die Antwort kann sich von Tag zu Tag ändern. Im Kern ist es eine Geschichte über Freundschaft: die Geschichte zweier Teenager, die ein großes Trauma erleben müssen, etwas Unfassbares, das ihnen widerfährt, als sie gerade erst zu verstehen versuchen, wer sie sind. Da ist Patch, der entführt wird, und da ist seine beste Freundin Saint, die ohne ihn verloren ist. Daraus entwickelt sich die Geschichte, und wir folgen den beiden über drei Jahrzehnte, vom Erwachsenwerden bis zur ersten Liebe, zu Besessenheit und Herzschmerz. Es ist die Geschichte einer Kleinstadt, über die Schwierigkeiten des Elternseins, über die erlösende Kraft der Kunst und über die Jagd nach einem Serienmörder, die mit allem Guten im Leben der beiden Schritt hält.
Tatsächlich handelt es sich um eine Serie vermisster und ermordeter Mädchen. Haben Sie wahre Fälle zu dieser Geschichte inspiriert?
Tatsächlich kein konkreter Fall. Zu Beginn hatte ich eine einfache Prämisse: Zwei entführte Teenager verlieben sich ineinander in einem stockdunklen Keller, in dem sie gefangen sind. Sie haben sich nie gesehen. Der Junge entkommt und findet das Mädchen danach nicht wieder. Die Polizei glaubt ihm nicht, dass es sie gibt, aber er weiß es tief in seinem Herzen. Dann entwickelte sich die Geschichte weiter, und aus dem einen Jahr, das ich für das Schreiben geplant hatte, wurden vier.
Was inspiriert Sie generell in Ihrem Schreiben?
Wahrscheinlich lasse ich mich unbewusst von allem inspirieren, was ich erlebe. Jedes Wort, das ich lese, jede Fernsehsendung, die ich sehe, jedes Gespräch, das ich führe. Es gibt zwar ein Verbrechen, das die Geschichte bzw. Handlung anstößt und das die Figuren in gewisser Weise stets bestimmt oder definiert, aber das ist zweitrangig im Gegensatz zu der großen Frage: Wie baut man sich ein Leben auf, wie macht man weiter, wenn etwas Schreckliches passiert? Und wenn man das nicht kann: Was bleibt von einem übrig?
Im Mittelpunkt Ihres Romans stehen Patch und Saint. Wie würden Sie die beiden Figuren beschreiben?
Von Patch hatte ich eine deutliche Vorstellung: Dieser Junge, der mit einem Auge geboren wurde und eine Augenklappe trägt, weil seine Mutter ihm sagt, er sei ein Pirat. Er lächelt immer, ist immer glücklich, obwohl er seinen Vater verloren hat und bei einer Mutter geblieben ist, die sich nicht richtig um ihn kümmern kann. Er tut etwas Wunderbares und Mutiges und greift ein, als ein Mädchen aus der Gegend entführt wird – nicht ahnend, dass diese Tat den Rest seines Lebens bestimmen wird. Er hat ein starkes Gespür für das, was er für richtig hält, auch wenn ihn das in Schwierigkeiten bringt: Er geht große Risiken ein und verletzt die wenigen Menschen, die ihm wirklich etwas bedeuten.
Einer dieser Menschen ist Saint.
Genau. Sie ist brillant, intelligent und hat starke Grundsätze. Sie ist Patch gegenüber so loyal, dass man spürt: Er ist ihr blinder Fleck. In der Geschichte sagt ihre Großmutter ihr, dass die erste Liebe die tödlichste aller Krankheiten ist, und Saint wird das auf eine Art und Weise erleben, die sowohl sehr schwierig als auch erzählenswert war. Es war ein harter Weg, diese beiden Figuren zu erschaffen, ich werde sie nie vergessen.
Man schließt Patch und Saint während der Lektüre ins Herz. Dabei sind Sie voller Schwächen und verbergen in ihren Seelen dunkle Räume. Beide hatten schon als Kinder einen schweren Start ins Leben. Wie groß ist die Chance, dass man – wenn man unglücklich ins Leben startet – doch noch glücklich wird?
Wir alle kennen die Momente, in denen wir an einer Weggabelung stehen. Das große „Was-wäre-wenn“? Der Bruchteil einer Sekunde, in dem das Leben aus den Fugen gerät. Das kann etwas scheinbar Unbedeutendes sein wie ein verpasster Zug, eine zufällige Begegnung oder der Wecker, den man nicht gestellt hat. Für meine Figuren kommt dieser Moment an einem Spätsommermorgen im Jahr 1975, und die Geschichte behandelt genau die Frage, die Sie gestellt haben.
Ich hatte eine schwierige Kindheit, und manchmal denke ich, dass die Erlebnisse meiner Jugend mein Erwachsenendasein geprägt haben, in positiver wie in negativer Hinsicht. Ich würde Ihnen so gern sagen, dass ich deshalb ein besserer Schriftsteller bin, ein besserer Vater, ein besserer Partner. Ich würde gern sagen, dass ich deshalb mutig und ausdauernd bin, dass ich ein Mensch bin, auf den meine Kinder stolz sein können. Aber ich weiß nicht, ob ich das glaube. Das Einzige, was ich wirklich weiß, ist, dass nur Sie allein das Ende Ihrer Geschichte schreiben können, wie auch immer sie begonnen hat.
Einige Ihrer Hauptfiguren sind auf der Suche bzw. auf der Jagd. Es ist eine Jagd, die sie quer durch die USA führt. Und diese Jagd hat beinahe manische Züge. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Besessenheit ist ein mächtiges Gefühl, und sicherlich eines, das sowohl Patch als auch Saint im Laufe der Geschichte antreibt. Patch ist während seiner Entführung in einem dunklen Keller eingesperrt, wo ihm nur die Stimme des Mädchens Grace Trost spendet. Die beiden gehen eine tiefe Bindung ein und ertragen das Grauen gemeinsam. Als Patch entkommt, ist es sein einziges Ziel, Grace zu finden und sie zu retten. Zu beweisen, dass es sie wirklich gibt. Es folgen drei Jahrzehnte des Wahnsinns, in denen Patch kreuz und quer durch die USA fährt und sich in eine Welt voller Probleme stürzt. Aber er sieht und erlebt auch Dinge, die ihm sonst nie passiert wären.
In dieser Hinsicht öffnet Grace seine Welt …
Und er verlässt die kleine Stadt, in der er sein Leben verbracht hat, und lebt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Saint hält die ganze Zeit zu ihm, denn sie weiß, dass sie ihn nur befreien kann, wenn sie das Mädchen und den Mann, der sie entführt hat, findet. Für beide ist es ein Opfer. Ein selbstloser Akt der Liebe. Und das hat etwas absolut Schönes.
Ihr Roman handelt auch von den verschiedenen Formen der Liebe – der zwischen Mann und Frau, zwischen Kindern und ihren Eltern, zwischen Freunden und so weiter. Welche Liebesgeschichte Ihres Romans liegt Ihnen besonders am Herzen?
Ich habe drei Kinder, und das Vatersein hat mich sehr verändert. Ich möchte der Mensch sein, den ich als Kind gebraucht hätte. Und obwohl ich auf die eine oder andere Weise sicher versage, ist das meine Kompassnadel, die mir jeden Tag den richtigen Weg zeigt. Ich glaube, das Elternsein bringt ein Maß an Hilflosigkeit mit sich, auf das man sich nicht vorbereiten kann. Jemanden in die Welt zu setzen, fühlt sich wie ein großes, wunderbares Risiko an. Ich mag diese Bindung, ich mag es, darüber zu schreiben. Und ich mag, dass – obwohl Saints Mutter gestorben ist und ihr Vater nicht da ist, und obwohl Patchs Vater gestorben ist und seine Mutter sich schwertut – dass beide das, was sie suchen, im jeweils anderen finden. Sie lernen voneinander und teilen so viele Erinnerungen, gute und schlechte. Und es sind diese Erinnerungen, die sie zusammenhalten, wenn das Leben um sie herum zerbricht.
Ihre Geschichte ist ganz schön komplex. Mehrmals greifen Sie am Ende Andeutungen oder Details auf, deren Grundlage Sie am Anfang Ihres Romans gelegt haben. Wie schreiben Sie so etwas: Haben Sie von Anfang an einen klaren Plan für den Plot oder entwickeln sich solche komplizierten Dinge auch während des Schreibens?
Nein, leider nicht. Eine Zeit lang ist alles ein ziemliches Chaos, sogar jahrelang, und wenn ich die Figuren dann kennengelernt habe und weiß, wie sie in einer bestimmten Situation fühlen und reagieren könnten, beginne ich, die Geschichte zusammenzufügen. Im ersten Jahr schreibe ich in keiner bestimmten Reihenfolge. Ich habe nur grobe Ideen für Szenen, die in die Geschichte einfließen könnten oder auch nicht. Und ich schreibe, was sich richtig anfühlt. Ich brauche auch viel zu lange für bestimmte Szenen. Bei dieser Geschichte habe ich vier Monate gebraucht, um ein Ende zu finden, ich konnte die Geschichte einfach nicht beenden. Ich konnte mich nicht verabschieden, ich konnte sie nicht loslassen. Ich fühlte mich danach ein bisschen verloren. Ich neige auch dazu, mich in Details zu verbeißen. Es gibt eine kurze Episode, in der Patch in einem Bergwerk arbeitet, und ich habe wochenlang über diese Arbeit recherchiert, nur um am Ende einen einzigen Absatz darüber zu haben. So verfahre ich auch mit Tieren, Bäumen und Pflanzen, Straßen und Gebäuden. Im Grunde mit allem, was den Prozess in die Länge zieht, bis er unerträglich wird. Ich bin ein bisschen wie eine Katze, die dem Licht nachjagt.
Wie fühlt es sich an, einen so umfangreichen und raffinierten Roman fertig geschrieben zu haben?
Es ist wirklich nett, dass Sie das sagen. Ich werde so tun, als würden Sie sowohl mich als auch das Buch raffiniert nennen. Es fühlt sich hart erarbeitet an, und das sollte es auch, aber wenn die ersten Rezensionen eintrudeln, kommt in mir immer auch ein Gefühl der Panik auf, die Angst, dass das Buch erschienen ist und ich keine Änderungen mehr vornehmen kann. Ich weiß, dass ich und die wunderbaren Menschen um mich herum, vom Agenten bis zu den Verlegerinnen und Verlegern, nicht härter hätten arbeiten können. Das macht einen ziemlich verletzlich. Im Moment weiß ich, dies ist das absolut Beste, was ich tun kann, dies ist das beste Buch, das ich schreiben kann. Eines Tages wird sich das vielleicht ändern, aber bis dahin hoffe ich wirklich, dass die Leserinnen und Leser der Meinung sind, dass es den Kampf wert war.