Scott Alexander Howards „Das andere Tal“ ist ein Zeitreisen-Roman
Man braucht ein wenig Zeit, um sich in diese von Scott Alexander Howard für seinen Debüt „Das andere Tal“ erdachte Welt einzufinden. Aber dann entwickelt der Zeitreisen-Roman eine geradezu rauschhafte Wirkung. Die Geschichte erzählt von drei Tälern, die sowohl hinsichtlich ihrer Bewohner, als auch hinsichtlich der Örtlichkeiten identisch sind. Mit einem Unterschied: Das, was in den drei Tälern geschieht, passiert um jeweils zwanzig Jahre zeitversetzt. Wandert man also in ein östliches oder westliches Tal, gelangt man in die Zukunft oder in die Vergangenheit.
Die 16-jährige Odile lebt in einer menschenverachtenden Gesellschaft
Scott Alexander Howards Hauptfigur ist das sechzehnjährige Mädchen Odile Ozanne. Odile strebt in der streng hierarchisch gegliederten und von menschenverachtenden Regeln und Gewalt geprägten Gesellschaft eine Karriere im Rat der Stadt an. Wie der Autor die Struktur der Gesellschaft beschreibt, erinnert dies an Verhältnisse, wie man sie sich gemeinhin von Nordkorea vorstellt: Die Täler sind voneinander durch Zäune, Wachtürme und patrouillierenden Gendarmen getrennt. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, denn jeder bespitzelt jeden und das Strafsystem ist drakonisch. Kontakte zwischen den Tälern sind nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt. Zu verlockend könnte es für Menschen, die bereits im Tal der Zukunft leben sein, ihre womöglich nicht so angenehme Gegenwart zu ändern, in dem sie in die Vergangenheit reisen und in die Geschichte eingreifen.
Wer versucht, auf seiner Zeitreise in das Geschehen einzugreifen, wird brutal bestraft
Dennoch genehmigt der Rat der Stadt gelegentlich Ausnahmen. Etwa, wenn ein todkranker Großvater seinen Enkel im Alter von zwanzig Jahren wenigstens einmal sehen möchte. Dann darf er, getarnt durch eine unheimliche schwarze Maske und streng bewacht, in das Tal der Zukunft reisen und seinen Enkel aus der Ferne beobachten. Doch wehe, wer versucht, auf seiner Zeitreise in das Geschehen einzugreifen. Schon wer nur – trotz Maske – erkannt wird, muss mit brutaler Bestrafung rechnen.
Odile kann ihren Freund retten, doch damit riskiert sie alles
Odile erkennt eines Tages in Besuchern aus der Zukunft die Eltern ihres Freunds Edme und weiß deshalb, dass er bald sterben wird. Sie hätte die Möglichkeit, ihn zu warnen. Doch dies würde einen Eingriff in die Läufe der Geschichte bedeuten. Einen Vorgang, der von harter Strafe bedroht ist. Die junge Frau trifft eine Entscheidung, die sie ihr Leben lang bereuen wird. Doch Scott Alexander Howard gibt ihr noch eine zweite Chance. Ob sie diese nutzen wird, verrät er erst auf den letzten Seiten seines wirklich unglaublich spannenden Romans.
Was Scott Alexander Howard zu seiner Geschichte inspirierte
In einem Interview über sein Buch antwortete Scott Alexander Howard auf die Frage, wie er auf die Idee zu dieser Geschichte gekommen sei: „Das war in einem Jahr, in dem zwei gute Freundinnen in ihren frühen Dreißigern starben. Nach dem Tod der ersten Freundin hatte meine Frau einen Traum, in dem sie ihr noch einmal begegnete, und als sie aufwachte, war sie sehr glücklich: Sie hatte das Gefühl, ihr wurden neue Erinnerungen geschenkt. Ich denke, das hat den Grundstein für die Geschichte gelegt. Die zweite Freundin kam mit Krebs in ein Hospiz und starb, bevor ich mich endgültig von ihr verabschieden konnte. Da hatte ich plötzlich die Idee für diese Welt – einschließlich des Details, dass die Menschen in Fällen schrecklicher Trauer die Vergangenheit besuchen können. Die Hinterbliebenen haben die Möglichkeit, ihre Lieben noch einmal an einem Ort zu treffen, an dem sie noch am Leben sind.“
„Das andere Tal“ ist philosophisch, spannend – ein kleines Meisterwerk
So lädt Scott Alexander Howards Werk einerseits ein zu einem philosophischen Gedankenspiel. Andererseits ist „Das andere Tal“ ein zutiefst berührender, präzise ausgedachter Roman über eine dystopische und repressive Gesellschaft, in der das Individuum nichts wert ist. Vor allem aber ist dieses Debüt des promovierten Philosophen ein fesselndes Stück Literatur, über das man noch lange nachdenkt.