Herr Claro, Ihr Buch „Der Rausholer“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der in den 1970er-Jahren das Gymnasium abbricht, sich – obwohl er eher der Hippiebewegung anhängt – der U.S. Army anschließt, in Vietnam landet, desertiert und schließlich als Geheimagent für die CIA und den BND arbeitet. Wenn man das so zusammenfasst, hört sich das reichlich übertrieben an. Aber Sie erzählen es so realistisch, dass uns beim Lesen das Gefühl beschleicht, Sie selbst könnten dieser Michael Müller sein. Ist das so?
Das Werk ist ein Roman. Aber Sie haben recht: Dieser Roman enthält sehr viele autobiographische Elemente. Das meiste habe ich selbst so erlebt. Viele der handelnden Personen gab es oder gibt es wirklich.
In den USA stellt unser Held fest, dass es gar nicht so leicht ist, sich ohne Beruf durchs Leben zu schlagen. Er lernt Zuhälter und heroinabhängige Prostituierte kennen, er wird Assistent eines Sandbild-Künstlers in Los Angeles, arbeitet als Fisch-Sortierer in San Diego und landet schließlich bei der Army. Warum sind Sie ausgerechnet zur Army gegangen, wo Sie doch eher friedensbewegt waren?
Die Flower-Power-Make-Love-Not-War-Wochen in Südkalifornien gehörten zu den schönsten Zeiten in meinem Leben. Dennoch war mir – im Gegensatz zu meinen Hippie-Freunden – immer klar, dass dies nur eine überschaubare Phase sein durfte. Schließlich war ich nach Amerika gekommen, um es „vom Tellerwäscher zum Millionär“ zu bringen und nicht, um mir die Welt schönzuträumen. Die Army-Anwerber in ihren schmucken Uniformen waren leider die einzigen, die mir regelmäßige Mahlzeiten und meinem Leben eine Perspektive boten. Natürlich hatte ich Angst, in Vietnam als Kanonenfutter verheizt zu werden und – mindestens genauso schlimm – auf andere Menschen schießen zu müssen. Aber die Pentagon Papers, die den Kriegsgegnern enormen Aufwind gaben, waren gerade veröffentlicht worden und so glaubte ich der Prognose meiner Anwerber, der Vietnamkrieg sei längst zu Ende, wenn ich mit meiner Ausbildung durch wäre. Eine Fehleinschätzung …
Und wie kam es, dass Sie im Dezember 1971 plötzlich im vietnamesischen Da Nang standen?
Ich sollte den letzten Teil meiner praktischen Ausbildung zum Feldsanitäter in einem mobilen Zelthospital in Da Nang absolvieren. Die Verlegung kam plötzlich und unerwartet.
Zunächst fanden Sie es in Vietnam gar nicht so schlecht, richtig?
Das stimmt nicht. Ich wollte nie nach Vietnam und glaubte tatsächlich, der Krieg wäre vorbei, wenn ich mit meiner Ausbildung fertig wäre. Ich wusste, dass ich jeden Tag getötet werden oder zum Töten anderer gezwungen sein konnte. Als ich vietnamesischen Boden betrat war mein erster Gedanke, bei nächstmöglicher Gelegenheit zu desertieren. Und mein zweiter, das Bestmögliche aus dem Hier und Jetzt zu machen. Ich versuchte, so viel wie möglich an medizinischem Wissen aus dem Feldlazarett mitzunehmen und zugleich die schwer geschundenen und traumatisierten Patienten etwas aufzuheitern.
Wie Sie dann desertierten, ist so unglaublich und spannend, dass Sie es unmöglich erfunden haben können. Natürlich half Ihnen dabei eine große Portion Unverfrorenheit und die Kunst der Lüge. Wussten Sie vorher, dass Sie sich so gut verstellen und lügen können?
Nein. Aber Not macht erfinderisch. Es ging schließlich um mein Leben.
Sie hatten unverschämtes Glück, denn anstatt als Deserteur im Gefängnis zu landen, bekamen Sie einen Job als Geheimagent. Das müssen Sie erklären.
Ich empfand das nie als Glück. Ich wollte nie Agent werden. Es war einfach nur das geringere Übel. Als CIA-Agenten den außergewöhnlichen Weg meiner Fahnenflucht nachvollziehen konnten, waren sie so beeindruckt, dass sie mich haben wollten und anboten, meine ruhmlos endende Army-Akte zu schließen, falls ich für sie arbeiten würde.
Als Geheimagent hatten Sie unter anderem das Problem, dass Ihre Freundin misstrauisch wurde, wenn Sie plötzlich für längere Zeit verschwanden und keine vernünftige Begründung liefern konnten. Mochten Sie Ihren Agentenjob dennoch gerne?
Eine Frau gibt sich in der Regel nicht mit der Auskunft, man müsse mal eine Weile in streng geheimer Mission verreisen, zufrieden. Sie will mehr wissen, möglichst auch noch Beweise. Aber das wäre fatal und würde sowohl die Frau als auch die Mission in höchstem Maße gefährden. Da muss man sich dann entweder für den Job oder für die Beziehung entscheiden. Das kann sehr schmerzhaft sein. Und ja, mit der Zeit fand ich Gefallen an den Jobs, dem Abenteuer, der Möglichkeit, auf US-Staatskosten durch die Welt zu reisen, neue Kulturen kennenzulernen, Menschen aus schwierigen Situationen zu helfen und dabei auch noch gutes Geld zu verdienen.
Was waren die Aufgaben, die Sie für die CIA zu erledigen hatten?
Meine Aufgaben bestanden – zumindest bis Ende 1979 – ausschließlich darin, bestimmte Zielpersonen aus den Ostblockstaaten und dem Nahen und Mittleren Osten in den Westen zu bringen.
Dürfen Sie darüber überhaupt so offen sprechen?
Die Dauer meiner Schweigepflicht wurde nie genau festgelegt. Die Welt hat sich in den vier Jahrzehnten seit meinem letzten beschriebenen Einsatz gewaltig verändert. Ich gehe davon aus, dass meine Offenbarungen kein politisches Porzellan mehr zerschlagen und niemanden mehr gefährden können.
Sie haben als Agent sehr viel Geld verdient. Aber eines Tages wollten Sie nicht mehr. Wie war es, plötzlich nicht mehr mit derart hohen Beträgen zu hantieren?
Da drängt sich ein Vergleich mit der Schauspielerei auf: Verdient ein Schauspieler wirklich viel, wenn er für eine Rolle mal 50.000 Euro bekommt und dann den Rest des Jahres arbeitslos ist? Es gab auch Jobs mit weitaus geringerem oder gar keinem Honorar und ein paar wirklich dicke Brocken. Ein deutscher Durchschnittsverdiener mit geregeltem Monatseinkommen verdient über die Jahre hinweg auch nicht weniger. Zwischen meinen Agentenjobs, manchmal auch parallel dazu, arbeitete ich ganz normal in bodenständigen Berufen wie Krankenpfleger oder Rettungssanitäter. Allerdings waren diese Berufe gnadenlos unterbezahlt und sind es heute noch. Deshalb war mir jede Finanzspritze willkommen. Erst der fürstlich bezahlte Buschehr-Auftrag erlaubte mir die die Gründung einer eigenen Firma und machte mich unabhängig.
Warum haben Sie als Agent aufgehört?
Irgendwann gründete ich eine Familie. Familie und Agententätigkeit vertragen sich nicht. Mit Familie ist man erpressbar. Und man trägt Verantwortung und kann nicht so einfach sterben oder sich für ein paar Jahrzehnte hinter Gittern ins Ausland verabschieden.
Haben Sie eigentlich ein schlechtes Gewissen wegen irgendetwas, was Sie in Ihrem Leben gemacht haben?
Es tut mir leid, dass ich den Mann, der im Roman Mike Love heißt, in gewaltige Schwierigkeiten gebracht habe. Bei mir ging es um mein Leben, bei ihm `nur´ um die Schwierigkeiten. Da musste ich Egoist sein. Was ich getan habe, hat vielen Menschen das Leben gerettet und war gut mit meinem Gewissen zu vereinbaren. Dennoch quält mich zuweilen die Frage, ob ich in meinem Leben jemanden getötet habe.
Das müssten Sie doch eigentlich gemerkt haben?
Nicht unbedingt. Einmal habe ich einen Mann, der mich angegriffen hatte, aus dem fahrenden Zug geworfen und einmal gab es einen Schusswechsel, der plötzlich von der Gegenseite verstummte. Ich wünsche mir, dass beide Gegner überlebt haben.
Wenn man Ihre Agentengeschichten hört, muss man davon ausgehen, dass Sie wirklich ein brillanter Lügner sind.
Die CIA hat das Lügen zu einer wahren Kunst hochstilisiert. So, dass wir am Ende der Ausbildung sogar einen Lügendetektor überlisten konnten. Aber wir bekamen auch Schauspielunterricht. Ich sah mich selbst eher als Rollenspieler. Ist ein Schauspieler ein Lügner, weil er einen Arzt oder Kommissar spielt, obwohl er gar keiner ist? Nein! Rollenspielen ist ja sein Beruf. Ich empfand meine Arbeit genauso. Nur ein wenig geheimer und riskanter. Die CIA schrieb die Rohversion des Drehbuchs. Ich durfte es beliebig abändern, die Hauptrolle spielen und auch noch Regie führen.
Würden Sie sagen, Sie haben auch eine kriminelle Ader in sich?
Was kriminell ist, ist eine Sache der Perspektive und des Handlungsortes. Wenn ich zum Beispiel in einem Hotel in Berlin, Wien, Zürich, Los Angeles oder Toronto ein Glas Whisky trinke, ist das nicht kriminell. Trinke ich den gleichen Whisky – mitgebracht oder auf dem Schwarzmarkt erworben – in einem Hotel in Teheran, so ist das nach den dortigen Landesgesetzen hochkriminell und wird mit 80 Peitschenhieben geahndet. Im Wiederholungsfall droht die Todesstrafe. Außerdem bestimmt der Zeitgeist, was kriminell ist. Wäre ich in den 1970er Jahren bei einer meiner Aktionen in der damaligen Tschechoslowakei oder in Bulgarien aufgeflogen, hätte mir das viele ungemütliche Knastjahre beschert. Heute sind die Grenzen offen und mein „Delikt“ gibt es gar nicht mehr.
Sie hatten im Laufe Ihrer Zeit als Hippie, Soldat und Geheimagent Kontakte zu vielen Menschen. Aber Sie traten mit verschiedenen Identitäten auf. Sind Sie jemals einer Person begegnet, die Sie unter einer anderen Identität kannte?
Nein, nie. Zumindest nicht unbeabsichtigt.
Ihre wahnwitzigste Agentengeschichte ist jene mit dem Atomkraftwerk in Buschehr am Persischen Golf. Sie sollten 140 deutsche Mitarbeiter gegen den Willen des Herrschers, Ayatollah Khomeini, außer Landes schaffen. Haben Sie bei dieser Aktion verdrängt, dass Sie die Verantwortung über 140 Menschenleben übernommen hatten?
Für mich war das einfach nur ein Job, den ich unter Ausschöpfung all meiner Fähigkeiten und Kenntnisse bestmöglich erledigen wollte. Ein Pilot denkt während eines Flugs auch nicht immer daran, für wie viele Menschenleben er gerade Verantwortung trägt, sondern konzentriert sich einfach nur aufs Fliegen.
Kann es sein, dass diese Aktion bis heute geheim geblieben ist?
Ja! Und darauf bin ich stolz und die wenigen damals Eingeweihten können es auch sein. Ich bin davon überzeugt, dass nur strikte Geheimhaltung die Aktion überhaupt möglich machte. Neun Wochen später erfolgte die Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran, war sofort weltweit in aller Munde und dauerte 444 Tage.
Sie haben irre Dinge erlebt, die sich praktisch nicht toppen lassen. Ist es Ihnen heute manchmal langweilig? Sehnen Sie sich nach dem Nervenkitzel von früher?
Langeweile ist für mich ein Fremdwort. Missionen, wie im Buch beschrieben, wären heute so nicht mehr möglich oder nötig. Alles hat seine Zeit.
Dürfen wir noch auf weitere Abenteuer des Agenten Michael Miller hoffen?
Ich war in den 1980er Jahren noch mehrfach für die CIA im Mittleren Osten und in Mittelamerika unterwegs. Wenn „Der Rausholer“ bei den Leserinnen und Lesern gut ankommt, schreibe ich vielleicht noch ein paar Erlebnisse auf.
Was bereitet Ihnen Freude im Leben?
Freiheit – Familie – Fliegen! Es macht mir immer wieder Spaß, in die Luft zu gehen, ob mit Fallschirm, Gleitschirm, Ballon, Hubschrauber, Gyrocopter, Doppeldecker oder einfach nur in einer kleinen Cessna. Gemeinsame Reisen und Abenteuer mit meiner Familie sind und bleiben die Highlights in meinem Leben. Die Freiheit weiß man vor allem dann zu schätzen, wenn man sie mal eine Weile nicht gehabt hat. Ich war mehrfach in meinem Leben eingesperrt, zwei Fälle sind im Buch beschrieben.
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