Die Schwestern Tilda und Ida leben mit ihrer alkoholkranken Mutter zusammen
Mit „22 Bahnen“ ist der jungen Autorin Caroline Wahl ein sehr schöner Debütroman gelungen. Ihre beiden Hauptfiguren, die Schwestern Tilda und Ida, schließt man sofort ins Herz. Tilda ist Anfang zwanzig und studiert Mathematik. Ihre Schwester Ida ist zehn Jahre alt. Die beiden leben mit ihrer alkoholkranken Mutter in einer Kleinstadt und halten so fest zusammen, dass man beim Lesen vor Rührung mitunter Tränen in den Augen bekommen könnte.
Die Mathematikstudentin Tilda jobbt an der Supermarktkasse
Weil die Mutter die meiste Zeit des Tages betrunken auf dem Sofa liegt, jobbt Tilda neben ihrem Studium als Kassiererin im Supermarkt, um das Familieneinkommen zu aufzubessern. Damit die Arbeit nicht so eintönig ist, lenkt sie sich mit einem Spiel ab: Tilda scannt die Waren ein, ohne zu schauen, wer sie aufs Band gelegt hat, um anhand der Zusammenstellung zu erraten, wer der oder die Käuferin sein könnte. Das liest sich dann in etwa so:
„Mineralwasser mit Kohlensäure, Mineralwasser mit Kohlensäure, Kinder Schokolade, Cola Kracher, Cini Minis, Lion Cereals, Smiley-Fries, Vollmilch, Vollmilch, Fischstäbchen, Tüte von der Fleischtheke, Toastbrot, Nutella, Nektarinen, Paradies-Creme Vanille, Paradies-Creme Karamell, Paradies-Creme Stracciatella.“ Tilda schätzt, dass die Person, die das alles aufs Band gelegt hat, Mitte 30 ist, „weiblich, definitiv Mutter, bisschen assi, rate ich, sage ‚32,49 Euro‘, schaue endlich hoch, und als ich in Viktors Gesicht blicke, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.“ Dies ist nur eine der leise-humorvollen Ideen, die Caroline Wahls seltsame Art zu erzählen, auszeichnet.
Zwischen Tilda und Viktor deutet sich eine zarte Liebesgeschichte an
Besagter Viktor spielt in dem Roman auch eine zentrale Rolle. Zum einen verbindet Tilda mit ihm eine verhängnisvolle Nacht und ein schlimmer Unfall, zum zweiten sind beide Schwimmer – auf das Schwimmen bezieht sich auch der Titel „22 Bahnen“ – und außerdem entspinnt sich zwischen Viktor und Tilda eine zarte Liebesgeschichte: „Ich halte seinem Blick auch noch Stand, als er sich über mich beugt wie ein Arzt über seine Patientin. Er legt seine rechte Hand auf meine linke Wange, und sein Blick wandert über mein ganzes Gesicht, als ob er irgendetwas suchen würde, irgendeine Antwort auf eine Frage, die ich nicht kenne. Dann treffen seine Augen wieder die meinen, und er schüttelt den Kopf. Viktor: Verrückt. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich: Womit? Er lässt sich Zeit mit der Antwort. Viktor: Mit dir.“
Darf Tilda für ihr Doktorandenstudium die kleine Schwester verlassen?
Als Tilda von ihrem Professor eines Tages angeboten wird, sich wegen ihres außergewöhnlichen Talents für ein Promotionsstudium in Berlin zu bewerben, steht sie vor schwierigen Fragen: Kann sie ihre zehnjährige Schwester mit der völlig lebensunfähigen Mutter allein lassen? Was wird aus ihrer sich im Entstehen befindlichen Liebe zu Viktor? Die Beantwortung dieser Fragen gelingt Caroline Wahl in ihrem so melancholischen wie hoffnungsvollen Roman in einer ziemlich eigenen, von Jugendjargon geprägten Sprache, die man gerne liest.