ISBN 978-3-423-28176-8

480 Seiten

€ 24,00

Eine indisch-amerikanische Familie zwischen Tradition und Moderne. Die junge Autorin Fatima Farheen Mirza im Interview über Familienbande, den Zauber deutscher Poesie und ihren Roman „Worauf wir hoffen“.

Fatima Farheen Mirza im Interview über ihren sehr aktuellen Roman „Worauf wir hoffen“

Titelbild Worauf wir hoffen

Foto © Jürgen Frank

Mrs. Mirza, Ihr Debütroman heißt im Original „A Place for us“. Was bedeutet Ihnen dieser Titel?

In einer Szene wünscht sich der fünfjährige Amar ein Picknick. Seine Schwestern wollen Mandarinen und Limonade – und er einen Fluss. Es ist ein inniger Familienmoment, und zugleich tritt die Dynamik zutage, die ihr gesamtes folgendes Leben bestimmen wird: Alle wünschen sich verschiedene Dinge, doch Amar will etwas komplett anderes. „Schauen wir mal“, sagt der Vater, „vielleicht weiß ich einen Platz für uns.“ Damit bringt er die Hoffnung des Romans auf den Punkt: dass ungeachtet der Unterschiedlichkeit ein harmonisches Miteinander möglich ist und sich jeder bemüht, die anderen zu verstehen.

Und wie sieht es mit dem deutschen Titel „Worauf wir hoffen“ aus: Trifft er das, was Sie in Ihrem Buch erzählen wollten?

Ich liebe diesen Titel! Er erfasst exakt, wie sich die Familienmitglieder durch ihre individuellen Wünsche und Träume voneinander entfernen, aber es schwingt auch ihr Bedürfnis mit, in Verbindung zu bleiben. Egal, welche Konflikte sie austragen, wie groß die Distanz zwischen ihnen ist oder wie viele Jahre vergangen sind: Sie hoffen darauf, selber verzeihen zu können, dass ihnen verziehen wird und dass sie sich gegenseitig akzeptieren.

Sie erzählen von einer amerikanisch-muslimischen Familie mit indischen Wurzeln. Verraten Sie uns in einem Satz, worum es genau geht?

Mal sehen: Es geht um Entscheidungen – manchmal sind es ganz kleine –, die jeder in der Familie für sich trifft; Entscheidungen, die nicht nur das eigene Schicksal beeinflussen, sondern auch das derer, die sie lieben. Und es geht darum, wie man mit diesen Entscheidungen zurechtkommt.

Dafür übernehmen Sie die Perspektiven aller Familienmitglieder: die der Eltern Rafik und Laila, der Töchter Hadia und Huda und des kleinen Bruders Amar. Ist Ihnen eine der Figuren beim Schreiben besonders nahe gekommen?

Am Anfang stand die Liebe zu Amar und der Wunsch, ihn zu verstehen. Doch am Ende war es Rafiks Sicht auf die Dinge, die mich am meisten berührt hat. Er erzählt als Einziger aus der Ich-Perspektive, und seine Stimme kam bereits komplett ausgereift zu mir. Das war meine erstaunlichste Erfahrung: Anders als bei den anderen Figuren erinnere mich nicht mehr daran, Rafiks Part geschrieben zu haben. Und wenn ich einige seiner Passagen wiederlese – sogar nach Erscheinen des Buches Hunderte Male –, zerreißt es mich nach wie vor.

Rafik hat Sie also überrascht. Wie sah es mit den anderen Figuren aus: Haben die sich ebenfalls verändert?

Die ganze Zeit! Wie ich über die Charaktere oder auch einen bestimmten Moment gedacht habe, hat sich ständig gewandelt, sodass ich zu früheren Szenen zurückgekehrt bin und diese umgeschrieben habe. Denselben Moment, dieselbe Situation aus jeder Perspektive zu betrachten, offenbarte mir, wie komplex menschliche Interaktionen und Beziehungen sind. Es gibt eben nicht nur den einen Blickwinkel auf die Dinge – und auch nicht die eine richtige Antwort, wie wir miteinander umgehen sollten.

Gewidmet ist Ihr Roman Ihren Eltern und Ihren drei Brüdern, „die mich nach Hause rufen“. Könnte es sein, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen Ihrer Familie und der im Buch gibt?

Mein Roman ist nicht autobiografisch, aber sehr persönlich. Die fiktionalen Figuren haben es mir erlaubt, Zusammenhänge zu erforschen, die mir vertraut sind. Und auch wenn ich vielleicht Aspekte aus meinem Leben in den Roman einfließen ließ, hat die Geschichte diese auf ihre ganz eigene Art absorbiert. Meine Figuren reagieren anders als ich, und die Geschichte, die sich so entwickelt hat, gehört allein ihnen.

Zum Beispiel Hadia? Kurz vor deren neunten Geburtstag fragt Laila, ob Hadia bereit ist, künftig einen Hijab zu tragen. Ihre Eltern überlassen es ihr, doch Rafik hielte es für eine Sünde, sich dagegen zu entscheiden. In Anlehnung an Goethes „Faust“ sprechen wir hierzulande in Sachen Religion von der sogenannten Gretchenfrage: Mrs. Mirza, wie halten Sie es mit dem Hijab?

Es ist schwierig zu beschreiben, wie ich dazu stehe, da ich den Großteil meines Lebens einen Hijab getragen habe. Und auch wenn er nun kein sichtbarer Teil meiner Person mehr ist, hat er mich maßgeblich geprägt. Im Alter von neun bis 22 Jahren war es mein tägliches Ritual, einen Hijab zu tragen. Er fungierte als Ausdruck meines Glaubens und war meine freie Entscheidung. Daher ist es fast unmöglich, Ihnen eine einfache Antwort zu geben – auch weil der Hijab eine höchstpersönliche Beziehung repräsentiert und physisch sichtbar macht: die ganz eigene Beziehung zu Spiritualität und Glauben. Darum ist es so wichtig, die Entscheidung jeder einzelnen Frau zu respektieren. Es ist allein ihre Angelegenheit, ob sie einen Hijab trägt oder nicht, nicht die ihres Arbeitsgebers, der Regierung, der Eltern, des Vaters oder der Gesellschaft.

Woher er denn komme, ist die freundliche Variante von Fragen, die Amar nach dem 11. September 2001 zu hören bekommt. Ich fürchte, die Dinge sind seitdem nicht besser geworden …

Das stimmt, es ist in vielerlei Hinsicht schlimmer geworden: Fremdenhass, Islamfeindlichkeit und weiße Vorherrschaft nehmen weltweit in erschreckendem Maße zu. Doch zumindest eine kleine Verbesserung erkenne ich: Es gibt nun eine Sprache für das, was Amar in seiner Jugend erfahren hat, die sogenannte Mikroaggression. Das erlaubt uns, dieses Phänomen wahrzunehmen, es zu verstehen und zu betrachten. Es ist eine Form von Rassismus, die weniger bedrohlich auftritt als „Woher kommst du?“ oder „Kann ich dir nicht einfach einen Spitznamen verpassen?“. Doch gerade diese kleinen feindseligen Kommentare, Mikroaggression eben, haben eine stetig wachsende schädliche Wirkung auf den, der ihnen ausgesetzt ist.

Die Geschwister sprechen Urdu miteinander. Diese Sprache ist „wie ein Tor zu ihrer gemeinsamen geheimen Welt“, heißt es. Welche Rolle spielt Urdu für Sie?

Da die Eltern meines Vaters bei uns gelebt haben, hatte ich das Glück, mit Urdu aufzuwachsen. Urdu liegt mir sehr am Herzen, es ist die Sprache der Heimat. Mich auf Urdu zu unterhalten, selbst wenn es mit jemand Fremden ist, schafft automatisch ein Gefühl von Zärtlichkeit. Urdu ist eine sehr feinfühlige, poetische Sprache.

„So etwas wie Freunde gibt es nicht“, sagt Rafik, „es gibt nur Familie, und nur die Familie lässt euch nie im Stich.“ Wie stehen Sie dazu?

Hier stimme ich nicht mit Rafik überein – obwohl ich seinen Versuch verstehe, das Familiengefüge zu stärken, damit die Kinder nicht zu sehr von ihren Freunden beeinflusst werden. Für mich persönlich sind sowohl Familie als auch Freunde außerordentlich wertvoll und haben einen ganz ähnlichen Platz inne: Beide füllen dein Leben und verleihen ihm Sinn, sie bereichern und verankern es. Familie und Freunde begleiten dein Leben und du das ihre.

Als sich Amar das erste Mal heimlich mit Amira trifft, kommt ihm eine Zeile aus Paul Celans Gedicht „Corona“ den Sinn. Sind Sie mit Celans Werk vertraut?

Oh ja, vor allem dieses Gedicht liebe ich! Amar ist ein Lyriker, und es war eine besondere Freude, aus seiner Perspektive zu schreiben und zu sehen, wie die Erfahrung eines bestimmten Moments sich in seiner Liebe zur Poesie spiegelte.

Schätzen Sie noch weitere deutschsprachige Schriftsteller oder Schriftstellerinnen?

Sehr nah ist mir auch Rilke. Bevor ich mich endgültig entschieden hatte, diesen Roman zu schreiben, las ich seine „Briefe an einen jungen Dichter“. Die Lektüre hat mich nachhaltig beeindruckt. „Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muss ich schreiben?“, schreibt Rilke. „Und wenn diese zustimmend lauten sollte […], dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit.“ Ich erinnere mich genau, wo ich war, als ich das las: in einem Café gleich bei mir um die Ecke. Es fühlte sich an, als hätte ich nun die Erlaubnis. Und ich dachte mir, okay, nun muss ich alles tun, was in meiner Macht steht, um diesen Roman zu schreiben.

Amar hält seine Gedanken in einem Notizbuch fest und möchte später Schriftsteller werden. Wann ist bei Ihnen dieser Wunsch aufgetaucht?

Ich schrieb von klein auf Geschichten und Gedichte. Mein erstes Buch verfasste ich mit sechs und nannte es „Meine Erinnerungen“. Es waren nur einige Seiten, und es ging um meine Angst, in die Schule zu gehen, um den Pflaumenbaum im Hinterhof und die Geburt meines Bruders. Es ist gespenstisch, das heute zu lesen und zu sehen, wie sehr ich mich schon damals auf ganz ähnliche Bilder und Beziehungen konzentrierte.
Ihr Debüt als Autorin war zugleich das Debüt der Schauspielerin Sarah Jessica Parker als Verlegerin. Wie kam es denn dazu?
Sarah Jessica suchte gerade nach einem passenden Buch für den Start ihres Imprints SJP for Hogarth. Ich bin so glücklich, dass mein Roman genau im richtigen Moment auf ihrem Schreibtisch landete! Sie ist so eine genaue, reflektierte und detailversessene Leserin.

Und wie gestaltete sich Ihre Zusammenarbeit?

Ich habe unglaublich viel von ihr gelernt. Sarah Jessica ging weit über ihre Rolle als Verlegerin hinaus. Wann immer wir über den Roman sprachen, dachte ich mir, dass Sarah Jessica exakt die Leserin ist, die sich jeder fürs eigene Buch wünscht. Sie ist mit ganzem Herzen dabei, liest Bücher, als würde sie in ihnen leben, und fühlt mit den Figuren, als seien diese real. Sarah Jessica hat die Veröffentlichung meines Romans zu einem bedeutsamen, unvergesslichen Erlebnis gemacht.

Meine letzte Frage betrifft das Ende Ihres Romans: Wir werden es hier nicht verraten … aber kannten Sie es schon im Vorhinein, oder entwickelte es sich erst während des Schreibens?

Ich wusste, wie es enden würde. Doch habe ich auf dem Weg Neues erfahren: Einige Szenen haben mich wirklich überrascht und auch den Ton zum Ende hin verändert. Sie lassen es hoffnungsvoller klingen, als ich es selber wahrgenommen habe. Dennoch kannte ich den Schluss. Ich habe von Anfang an rückwärts geschrieben, um all die kleinen Momente und Szenen zu verstehen, die uns das große Ganze erzählen.

ISBN 978-3-423-28176-8

480 Seiten

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Tina Rausch

Geboren 1970, studierte Tina Rausch in München Neuere Deutsche Literatur und Erziehungswissenschaften. Seither ist sie freiberufliche Redakteurin, Lektorin und Literaturvermittlerin – unter anderem mit dem Ziel, (junge) Menschen für Literatur zu begeistern.

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