Frau Krien, mit mitreißendem Tempo katapultieren Sie uns in Ihrem Roman „Die Liebe im Ernstfall“ durch die Leben von fünf charaktervollen Frauen. Die Lebensläufe von Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde sind alle miteinander verbunden – durch Liebhaber, Ehen und andere familiäre Beziehungen. Was war Ihre erste Idee, die Initialzündung für dieses komplexe Werk über das Leben und Lieben in der heutigen Zeit?
Ganz am Anfang stand eine andere Idee: Ich wollte einen autofiktionalen Roman über das Leben mit einem schwerbehinderten Kind schreiben. Damit hätte ich das Hauptthema meines eigenen Lebens zum Gegenstand der Handlung gemacht. Ich fing an und nannte die Frau Paula. Allerdings verlor ich recht schnell die Lust, so nah am Eigenen zu bleiben. Also begann ich, der Figur eigenen Raum zu lassen und ihr bei ihrer Entwicklung zuzuschauen. Plötzlich führte sie ein ganz anderes Leben als ich. Dann hatte sie diese Freundin, Judith, die ich als Figur auch interessant fand. Und schon war ich mittendrin in einem Kosmos, den ich so gar nicht geplant hatte.
Ihre Geschichte steckt voller Wahrheiten. Voller klarer, stichhaltiger Aussagen über die Last, Macht und Verführungskraft der Liebe. Sie streuen das so beiläufig in die Erzählung. Haben Sie ein Notizbuch, in das Sie „gute“ Sätze notieren oder kommen die Ihnen einfach so beim Schreiben?
Ich besitze ein Notizbuch für solche Sätze, aber es ist leer. Ich habe es vorsichtshalber immer dabei, doch in der Regel kommen die Sätze erst beim Schreiben. Wenn ich im Fluss bin, dann muss ich nicht mehr darüber nachdenken, wer was sagen könnte oder was als nächstes passiert. Alles ergibt sich dann von allein.
Wann, wo und wie schreiben Sie? Gibt es da etwas, das Ihnen besonders wichtig ist?
Ich stehe jeden Morgen zwischen 5.30 und 5.50 Uhr auf. Um sieben sind beide Kinder aus dem Haus. Gegen acht sitze ich am Schreibtisch. Bestenfalls war ich da schon eine dreiviertel Stunde laufen oder habe in Ruhe gefrühstückt und etwas gelesen. Ich schreibe dann etwa bis 12 Uhr, in der Regel zu Hause, manchmal im Café, hin und wieder in anderen Wohnungen. Natürlich schreibe ich nicht wirklich vier Stunden lang. Die meiste Zeit warte ich darauf, dass etwas geschieht, dass der Film in meinem Kopf in Gang kommt und die Figuren lebendig werden. Dafür brauche ich Stille oder die richtige Musik, meistens Klassik, bevorzugt Klavierwerke. Gern Bach, Scarlatti, Rameau, Beethoven. Manchmal passiert trotzdem nichts. Dann stehe ich auf und erledige die Wäsche oder koche das Essen für den Abend. Die Zeit ab Mittag ist der Bürokratie und den Erledigungen außer Haus vorbehalten. Gegen 15 Uhr ist das erste Kind wieder zu Hause. Von da an ist an Schreiben nicht mehr zu denken.
An einer Stelle von „Die Liebe im Ernstfall“ behaupten Sie: „Liebe ist kein Gefühl. Liebe ist keine Romantik. Liebe ist eine Tat.“ Das würde bedeuten, dass sich zu verlieben nicht passiert, sondern eine Entscheidung verlangt?
Verlieben und Lieben sind für mich zwei völlig unterschiedliche Dinge. Verliebtheit beruht nicht auf Entscheidung, sondern auf einem mysteriösen, instinktiven Anziehungsprozess. Da ist eine Menge Biochemie im Spiel. Und wenn der Hormonspiegel wieder abzusinken beginnt und der Verstand wieder übernimmt, gibt es nicht selten Zweifel und Fluchtgedanken.
Und Liebe?
… ist etwas anderes. Liebe ist vor allem Verbindlichkeit. Kant behauptete, wir seien nicht auf der Welt, um glücklich zu werden, sondern um unsere Pflicht zu erfüllen. Doch besonders in der Liebe kann die Pflicht zur Freude werden. Eine Entscheidung ist nicht immer nötig. Dafür, mein Kind zu lieben, entscheide ich mich ja nicht. Ich liebe es einfach. In der Partnerschaft ist das anders. Da muss ich an einem bestimmten Punkt eine Entscheidung für oder gegen den anderen Menschen treffen. Und sobald ich mich für ihn entscheide, bin ich in der Verbindlichkeit.
Nicht nur die Liebe, auch der Sex spielt in Ihrer Geschichte eine große Rolle. Wie Sie Liebesszenen beschreiben, das hat etwas sehr Offenes, Direktes, Praktisches. Woher nehmen Sie diese erzählerische Souveränität?
Für mich ist Sex einfach etwas sehr Normales. So wie essen, trinken, schlafen. Ein Grundbedürfnis.
Sie sind in Ostdeutschland aufgewachsen. Stimmt das Klischee, dass Westdeutsche in Liebesdingen etwas verklemmter sind?
Um das beurteilen zu können, müsste ich auf eine ähnliche Anzahl westdeutscher wie ostdeutscher Partner zurückblicken können, was ich nicht kann.
„Nur einem Mann, den sie nicht liebt, gesteht sie ihre geheimsten Wünsche“ heißt es über Jorinde. Kann man das erklären? Warum liebt Jorinde, wie sie liebt?
Sie fragen hier nicht nach Liebe, sondern nach Sex. Für Jorinde ist es leichter, ihre sexuellen Wünsche mit einem Mann auszuleben, mit dem sie sich im Anschluss nicht über Haushalt und Kinder austauschen muss, der ihr nicht zu nahe kommt, dessen Verlust sie leicht verschmerzen könnte. Bei einem Mann, den sie liebt, ist die Fallhöhe größer. Mit drei Kindern und einem anspruchsvollen Beruf fehlt ihr die Kraft für dieses emotionale Wagnis.
„Eine undefinierbare Kraft liegt in der Verdichtung des Weiblichen“ schreiben Sie, um die enge Verbindung zwischen den Schwestern Malika und Jorinde in Worte zu fassen. Welche besondere Kraft liegt für Sie im Weiblichen, im Frausein?
Wenn ich mich in meinem Umfeld umschaue, empfinde ich die Frauen oft als die Stärkeren im Vergleich zu den Männern. Sie schultern unglaublich viele Dinge gleichzeitig, gehen mit Krisen souveräner um und benötigen dabei nicht ständig Lob und Bestätigung. Sie tun einfach, was getan werden muss. Sie bleiben in der Spur, selbst in extremen Lebenssituationen.
Brida ist Schriftstellerin. Jorinde ist Schauspielerin. Paula ist Buchhändlerin. Malika ist Violinistin und Judith ist Ärztin. In jeder der von Ihnen erdachten Figuren finden sich Parallelen zu Ihrem eigenen Leben. Finden Sie sich in einer Ihrer Protagonistinnen besonders wieder?
Ich finde mich in allen ein bisschen und gleichzeitig in keiner vollständig wieder. Brida vollzieht als Schriftstellerin den Spagat zwischen Kindern und Schreiben, den ich selbst allzugut kenne. Judith ist am glücklichsten auf dem Pferd. Auch das ist mir vertraut. Paula verliert ihr Kind. Ich habe zwar kein Kind verloren, aber meine zweite Tochter ist gesund geboren und erlitt mit sechs Monaten einen Impfschaden. Sie hat überlebt, ist jedoch seither schwer geistig behindert. Alle Figuren machen mindestens eine Erfahrung, die ich kenne.
Wie Sie bereits erwähnten, haben einige Ihrer Protagonistinnen auch Kinder. Um ihr Glück zu leben, lassen sie es mitunter auf eine Trennung von den Vätern ankommen. Wie sehr dies eine Familie beanspruchen kann, beschreiben Sie anschaulich anhand von Jorindes Schicksal. Es klingt gerade so, als hätten Sie dies selbst erlebt?
Das stimmt. Ich lebe seit sieben Jahren vom Vater meiner Kinder getrennt und weiß, dass der Verlust der Ursprungsfamilie für alle Beteiligten sehr schmerzhaft ist und alles, was danach kommt, den Verlust nicht ersetzen kann. Es tut aber auch niemandem gut, in einer unerträglichen Partnerschaft auszuharren. Jene meiner Protagonistinnen, die sich trennen, haben gute Gründe dafür.
Alle diese Frauen führen ein selbstbewusstes, die meisten auch ein erfülltes Liebesleben. Um es zu verwirklichen, schrecken sie auch nicht vor schmerzhaften Entscheidungen zurück. Was ist für Sie das Geheimnis einer erfüllten Liebesbeziehung?
Die Basis bilden gegenseitiger Respekt und die Einsicht, dass mein Partner oder meine Partnerin mir nicht die bedingungslose Liebe entgegenbringt, die Eltern bestenfalls bieten. In einer erwachsenen Liebesbeziehung darf ich meine Liebe an Bedingungen koppeln und muss Bedingungen akzeptieren. Ich darf mindestens erwarten, dass mein Partner mir mit Achtung und Respekt begegnet, mich verlässlich unterstützt, meine Grenzen nicht überschreitet und mir genug Raum gibt, um meine Persönlichkeit zu entfalten. Gleiches gilt natürlich auch umgekehrt. Vieles ist verhandelbar, diese Ansprüche jedoch sind es nicht.
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