Frau Flaßpöhler, mit Ihrem Hörbuch „Sensibel – Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“ nehmen Sie eine interessante Erscheinung in den Fokus: die Entwicklung des Menschen zu immer mehr Sensibilität. Aber wenn man schaut, was die Menschen – insbesondere in sozialen Medien von sich geben – dann gewinnt man doch eigentlich einen gegenteiligen Eindruck?
In den sozialen Medien gibt es beides: Auf der einen Seite Hassrede, auf der anderen aber eben auch eine hohe Empfindlichkeit für Grenzverletzungen. Beides steht sicher in einem Zusammenhang, schaukelt sich gegenseitig hoch. Und, was oft übersehen wird: Auch die, die andere für ihre Sensibilität kritisieren, besitzen oft ein hohes Maß an Empfindlichkeit, doch ist sie eben anders gelagert. Während benachteiligte Gruppen empfindlich etwa auf inkorrekte Sprache reagieren, reagieren Angehörige der Mehrheitsgesellschaft empfindlich auf die Ansprüche dieser Gruppen, weil sie um Traditionen oder bestimmte Privilegien fürchten.
Ist es denn nun gut, wenn wir sensibler werden oder hat das auch Nachteile?
Man muss hier differenzieren. Über welche Art der Sensibilität sprechen wir? Philosophiegeschichtlich lassen sich zwei verschiedene Formen der Sensibilität ausmachen: Auf der einen Seite die aktive Sensibilität. Damit ist die Fähigkeit gemeint, mit anderen empathisch zu sein und sich ihnen gegenüber sensibel zu verhalten. Diese aktive Sensibilität ist zunächst einmal ein Zeichen von Fortschritt, ja, wenn man so will, sogar das Herz der Humanität. Davon unterschieden wird aber nun die passive Sensibilität, womit Reizbarkeit und Dünnhäutigkeit gemeint ist. Diese passive Sensibilität hat einen stark destruktiven Zug, sie trennt, anstatt zu verbinden.
Sie haben vier Dimensionen der Sensibilität festgestellt. Könnten Sie die bitte ganz kurz für uns greifbar machen?
Da haben wir erstens die ethische Sensibilität. Damit ist im Kern die eben beschriebene aktive Sensibilität gemeint. Es geht um die Fähigkeit zur Empathie, darum, mit Rousseau gesprochen, „unsere Gefühle an Wesen zu heften, die uns fremd sind“. Zweitens: Die leibliche Sensibilität. Hierher gehört auch und zentral das moderne Distanzverlangen. Im Zuge von MeToo, aber natürlich auch in der Corona-Krise haben wir gesehen, wie ausgeprägt diese Form der Sensibilität heute ist: Wir sind sehr empfindlich geworden für körperliche Nähe, sehen darin viel schneller als früher eine Verletzung unserer Würde. Drittens: Die psychische Sensibilität. Hierzu zählen die moderne Sprachempfindlichkeit genauso wie die Debatte um Trigger-Warnings, sowie, ganz wichtig, auch die historische Entwicklung des Trauma-Begriffs, der sich im Zuge der Zeit immer mehr ausgeweitet hat: Auch eine sprachliche Verletzung kann heute als traumatisch gewertet werden, das war noch vor einigen Jahrzehnten undenkbar. Viertens: Die ästhetische Sensibilität. Wer sie besitzt, kann sich abheben vom Massengeschmack, findet Gefallen am Besonderen, Einzigartigen, ist in der Lage, seine Wohnung stilvoll einzurichten etc. Andreas Reckwitz beschreibt dieses Distinktionsbegehren der gehobenen Mittelklasse sehr eindrücklich in seinem Buch „Gesellschaft der Singularitäten“, und es ist bei näherer Beschäftigung wirklich augenöffnend, wie eng Singularität und Sensibilität miteinander verschaltet sind.
In Ihrem Hörbuch zeigen Sie auch das interessante Wechselspiel zwischen Sensibilität und Verteidigungsfähigkeit auf. Wie kann ein sensibler Mensch den Moment ausmachen, an dem er sich wehren – und ab dem er damit auf gewisse Weise unsensibel werden muss?
Genau hier liegt eine große Herausforderung. Denn wir müssen uns klar machen, dass die Aggression sich für zivilisierte, empfindsame Menschen ja eigentlich nicht gehört. Kindern sagen wir sehr früh, dass sie jetzt bitte mal nicht so ausflippen sollen. Doch es ist genau, wie Sie sagen: Es gibt den Punkt, da müssen wir aus reinem Selbstschutz an etwas Archaisches, Primitives in uns herankommen. Und zwar genau dann, wenn etwas in uns durch einen Fremdakt wirklich zu zerbrechen droht.
An einer Stelle halten Sie fest: „Die Kraft erwächst aus der Wunde.“ Das müssen Sie erklären.
In diesem Satz zeigt sich, dass Verletzlichkeit und Resilienz keine Gegensätze sind, sondern sehr tief verbunden. Denken Sie an Friedrich Nietzsche: Von Nietzsche stammt die berühmte Formulierung, dass uns stärker macht, was uns nicht umbringt. Nietzsche war, so gesehen, der Resilienzdenker schlechthin. Doch gleichzeitig war Nietzsche exakt das, was wir heute als hochsensibel bezeichnen: Er war extrem migräneanfällig, war sehr feinfühlig für klimatische Veränderungen. Kurzum: Nietzsche interessierte sich auch aufgrund seines eigenen fragilen Gesundheitszustandes zutiefst für die Wurzeln individueller Widerstandskraft. Aber man kann sich diesem Satz auch noch von einer anderen Seite her nähern…
Nämlich?
Für den jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas ist es gerade die Verwundbarkeit, die uns human und emphatisch mit anderen macht. Diese Verwundbarkeit gilt es zu bewahren, um so die Kraft der Empathie hervorzubringen. Für Lévinas war also nicht individuelle Widerstandskraft das Ziel, sondern eine kraftvolle Verbundenheit der Menschen untereinander. In meinem Buch versuche ich, die Position Nietzsches mit derjenigen von Lévinas in einen Dialog zu bringen. Und es zeigt sich: So verschieden die Ansätze sind – Nietzsche setzt eher auf die individuelle Widerstandskraft, Lévinas aufs Kollektiv – treffen sie sich exakt in diesem Satz: Die Kraft erwächst aus der Wunde. Gleichwohl, und das ist mir auch wichtig, darf man die Wunde nicht romantisieren…
Wie meinen Sie das?
In meinem Buch erzähle ich auch von Jean Améry, der von den Nazis gefoltert wurde und dessen Wunde sich nicht schließen konnte. Er hat sich 1978 umgebracht.
Sie definieren Sensibilität als Voraussetzung für resiliente Stärke. Dies widerspricht der Meinung vieler Menschen, die meinen, wer stark sei, brauche keine Sensibilität, sondern boxe sich ganz einfach so durchs Leben.
Wirklich widerstandsfähig sind sensible, dynamische Systeme. Insofern ist der Begriff der Resilienz natürlich selbst irreführend, denn das lateinische resilire meint ja „zurückspringen“, „abprallen“. Aber: Jeder Panzer wird irgendwann porös. Wenn ein System zu stabil gebaut ist, kann es nicht mehr auf Unvorhergesehenes reagieren. In meinem Buch interessiere ich mich übrigens sehr für die Schriften Ernst Jüngers, dessen Kriegsschilderungen ja durchaus zu Recht im Sinne der Verpanzerungslogik gelesen wurden. Doch man darf diese „Verhaltenslehren der Kälte“, wie Helmut Lethen sie nennt, auch nicht zu schnell verwerfen, sondern muss schauen, ob es nicht vielleicht doch etwas gibt, das wir heute ganz gut gebrauchen können. Deshalb versuche ich, Jünger mit Freud zu lesen und finde unterhalb der Kriegsverherrlichung (die Freud in keiner Weise teilte!) etwas, das auch für die psychoanalytische Trauma-Behandlung zentral ist: Was bei Jünger immer wieder auftaucht, ist eine primitive Kraft, die sich im Augenblick höchster Bedrohung als lebensrettend erweist und den Menschen Unvorstellbares aushalten lässt. Damit will ich nicht sagen, dass wir Verweichlichten alle mal wieder in den Krieg ziehen sollten, keinesfalls! Was ich sagen will, ist vielmehr dies: Die Gewalt in uns, diese primitive Urkraft, ist nicht nur etwas zu Überwindendes. Sie kann uns auch schützen, wenn sie sich im rechten Moment entbindet.
Sie erkennen auch eine Verbindung zwischen Mitgefühl und Gleichheit. Wo ist die Gemeinsamkeit?
Der schottische Philosoph David Hume hat sich im 18. Jahrhundert dem Phänomen des Mitgefühls gewidmet und gefragt, woher es denn eigentlich kommt, dass wir mit anderen mitfühlen können? Warum werden auch wir traurig, wenn jemand weint? Entscheidend war für Hume, dass wir uns in einem Punkt eben alle gleichen: Wir sind Menschen. Die Literatur der Empfindsamkeit hat es im 18. Jahrhundert vermocht, die Menschen jener Zeit regelrecht im Mitfühlen zu schulen: Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseau schilderten in ihren Romanen Frauenschicksale, mit denen die Leser sich identifizierten. Die Historikerin Lynn Hunt vertritt die These, dass diese Literatur entscheidend dazu beitrug, dass die Kraft der Empathie sich entfalten und in revolutionärer Energie bündeln konnte. Wenn Menschen über das Mitgefühl verbunden sind, wackelt jede tyrannische Herrschaft.
Welche Rolle kommt den Frauen in einer Zeit höherer Sensibilität zu? Sie zeigen in Ihrem Hörbuch ja nicht nur die philosophischen Grundlagen der Sensibilität, sondern nennen auch moderne Beispiele wie Luisa Neubauer und Greta Thunberg …
Hier muss man, denke ich, einfach wachsam sein. Denn wir neigen heute dazu, Weiblichkeit und Empathie sehr eng miteinander zu koppeln im Sinne von: Frauen sind empathische Wesen und retten die Welt, Männer hingegen sind toxisch, also giftig. Doch wer so denkt, trägt die Philosophie Rousseaus im Grunde tief in sich: Für Rousseau waren die Frauen, vereinfacht gesagt, die moralischeren Menschen. Genau dadurch hat er sie aber auch festgelegt auf ein gutes, fürsorgliches Dasein und sie in die Nähe der Natur gerückt. Sexuell begehren sollte die Frau bitte auch nicht, sondern immer schön „nein“ sagen. Selbstverständlich haben Frauen wie Greta Thunberg oder feministische Bewegungen wie „Nein heißt nein“ Gutes hervorgebracht. Doch müssen wir uns bewusst machen, dass die Glorifizierung der Frau als der bessere und reinere, also nicht-toxische Mensch eben auch auf eine wirkmächtige männliche Denktradition zurückgeht.
Bitte sagen Sie noch etwas zum Verhältnis zwischen Sex und Sensibilität. Was hat sich da verändert im Verhältnis zu früher?
Zunächst einmal: Zum Glück sehr vieles! Es ist ja noch gar nicht lange her, dass die Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar war. Die Frau galt lange, sehr lange, viel zu lange, als der Besitz des Mannes, über den er frei verfügen konnte. Und noch heute werden Frauen ermordet, weil Männer es nicht aushalten, dass ihre Partnerinnen sich trennen. Gleichzeitig – beziehungsweise sicher auch gerade deshalb – erleben wir heute eine stark erhöhte Sensibilität für sexuelle Belästigung, die schon bei einem etwas eindringlicheren Blick oder einer willkürlichen Berührung am Knie anfangen kann. Damit einher geht der Ruf nach stärkerer Regulierung – auch und gerade im Intimbereich. Hier ist aber aus meiner Sicht die Frage, bis zu welchem Punkt die Gesellschaft bzw. das Gesetz für Schutz sorgen kann und muss und ab wann die Individuen selbst gefragt sind, sich in dem hochkomplexen Feld der Sexualität souverän zu bewegen.
Auch dem Schmerz als Bestandteil der Sensibilität widmen Sie sich. Was sind Ihre Erkenntnisse?
Dieses Thema zieht sich durch das ganze Buch, hier vielleicht nur ein Aspekt: So verschiedene Denker wie Michel Foucault und Ernst Jünger sind sich in einem Punkt einig: Auch wenn Gesellschaften sensibler und zivilisierter werden, verschwindet der Schmerz nicht. Er verschiebt sich vielmehr. Gewalt, die sich in früheren Zeiten direkt am Körper ausagierte (man denke an mittelalterliche Strafpraxen), verlagert sich immer stärker ins Psychische. Sie wird als Strafinstanz verinnerlicht. Ihr Name: Gewissen.
Faszinierend ist, was Sie über den Gebrauch von Wörtern wie „Neger“ oder „schwul“ schreiben: Ist es denn nun richtig, den „Negerkönig“ aus Astrid-Lindgren-Büchern zu streichen und dass die Bezeichnung „schwul“ nur von Homosexuellen verwendet werden darf? An welchen Sensibilitäts-Leitplanken sollten wir uns bei unserem Sprachgebrauch orientieren?
Vorab: Ich vermeide in meinem Buch das N-Wort, weil ich auch diejenigen erreichen möchte, die es sofort zuklappen, wenn ich das Wort ausschreiben würde. Auch gehöre ich keineswegs zu denen, die die moderne Sprachsensibilität rundheraus ablehnen. Vielmehr zeige ich, wie weit die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Sensibilität zurückreichen und bis zu welchem Punkt sie Berechtigung besitzt. Übersehen wird heute aber vielfach, dass man mit einer allzu rigiden Sprachpolitik Widerstandskräfte ungenutzt lässt, die in der Sprache selbst liegen. Und: Sprache ist aus meiner Sicht nicht einfach ein Instrument, das man so oder so benutzen kann, sondern die Sprache übersteigt uns. Und sie verfehlt uns übrigens als allgemeinverbindliches System auch notwendigerweise. Gerade in dieser verfehlenden Allgemeinverbindlichkeit liegt ebenfalls eine Kraft verborgen, eine Schutzfunktion. Genau die gibt man aber preis, wenn man den Anspruch erhebt, dass Sprache mich ganz persönlich mit meinem Geschlecht und meinem Begehren zu repräsentieren hat.
Ihr Hörbuch ist ein atemberaubender Parforceritt durch die Philosophie und Literatur. Bei all seiner Gebildetheit ist es sehr unterhaltsam. Beim Hören fragt man sich: Wie konnten Sie nur all diese Texte und Fundstellen so elegant arrangieren – und wie haben Sie diese gefunden? Verraten Sie uns Ihr Schriftstellerinnengeheimnis?
Kurze Antwort: Mein Interesse. Es führt mich.
Wenn wir ein sensibles Leben führen wollen – worauf sollten wir vor allem achten?
Auf die Ambivalenz in uns selbst.