heimgesperrt

ISBN 978-3-948013-21-9

251 Seiten

€ 20,00

Warum darf sie ihre Mutter nicht sehen? Hannah, die Hauptfigur von Sylvia Wagners „heimgesperrt“ setzt sich über viele Grenzen hinweg. Und so enthüllt sie nicht nur das Geheimnis ihres Lebens.

In ihrem Roman „heimgesperrt“ kommt Sylvia Wagner Verbrechen in Kinderheimen auf die Spur

heimgesperrt buchtipp

Sie ist anders – sie wächst im Heim auf

Hannah, die Hauptfigur von Sylvia Wagners Roman „heimgesperrt“ ist anders: Sie wächst ohne ihre leibliche Mutter in Heimen und bei Pflegeeltern auf. Sie erlebt emotionale und andere Entbehrungen und dass sie Menschen, die eigentlich für sie sorgen sollten, skrupellos belügen. Doch Hannah lässt sich nicht unterkriegen: Gegen alle Widerstände – Behörden, Pflegeeltern und die Schule – nimmt sie ihr Leben in die Hand. Heimlich durchsucht sie Akten nach den Adressen ihrer leiblichen Schwester und ihrer Mutter und lernt die beiden kennen. Und sie macht Abitur, obwohl das einem Heimkind keiner zutraut.

Sylvia Wagner erzählt in „heimgesperrt“ die Geschichte ihres Lebens

Der Roman „heimgesperrt“ ist auch deshalb so berührend, weil man beim Lesen nicht aus dem Kopf bekommen kann, dass fast alles, was Sylvia Wagner erzählt, ihr selbst genau so widerfahren ist. Nachdem sie das Abi absolviert hat, studiert die junge Frau Pharmazie. Jahrzehntelang arbeitet sie danach in verschiedenen Apotheken, doch ihre Vergangenheit lässt sie nicht los. Bei einem Treffen von ehemaligen Heimkindern hört sie von anderen Betroffenen unglaubliche Geschichten. Als Sylvia Wagner alias Hannah diesen nachgeht, stößt auf einen Skandal, der seinesgleichen sucht und immer wieder auch ihre persönliche Geschichte tangiert.

Heimkinder wurden belogen und mit Medikamenten ruhiggestellt

Sylvia Wagner findet heraus, dass es in der Bundesrepublik Deutschland von den 1950ern bis in die 1970er Jahre üblich war, Heimkinder mit Medikamenten ruhigzustellen und sogar Arzneimittel an ihnen zu testen. Diese Erkenntnis wühlt die Pharmazeutin derart auf, dass sie diese Verbrechen zum Thema einer Doktorarbeit macht. Wut sei dabei nicht ihre stärkste Motivation gewesen, sagt Sylvia Wagner. „Ich fühlte mich verantwortlich, weil ich sah, wie die Heimkinder mit Halbwahrheiten abgespeist wurden. Wie sie auf Fragen, die sie bewegten, keine Antworten bekamen. Aber ich war nun mal Pharmazeutin! Ich hatte das Handwerkszeug, hier Licht ins Dunkel zu bringen!“

Wie eine Detektivin ermittelt Sylvia Wagner, was wirklich passiert war

Ihre Rechercheergebnisse sind das Resultat einer akribischen Detektivarbeit. Neben den Arzneimittelversuchen versteht sie auch immer mehr die Geschichte der Heimkinder, den gewaltförmigen Umgang mit ihnen und warum viele überhaupt ins Heim kamen. Aus den Psychiatrieakten ihrer Mutter erfährt sie, dass diese noch ein drittes Kind hatte, das jedoch im Säuglingsheim starb. So hatte die Mutter drei Kinder von drei verschiedenen Männern. Kaum zu glauben, aber das war seinerzeit ein Grund, die psychische Gesundheit einer Frau anzuzweifeln. Wie Sylvia Wagner im Interview ((https://buchszene.de/heimgesperrt-interview/ )) erzählt, wurde ihre Mutter mit der Begründung, sie leide unter Schizophrenie in die Psychiatrie eingewiesen. Eine eindeutige Diagnose gibt es jedoch nicht. In Wahrheit, so vermutet es die Pharmazeutin, wollte man ihre Mutter im Krankenhaus behalten, damit sie nicht noch weitere Kinder bekommt: „Ich habe bei meinen Recherchen gesehen, dass auch andere Frauen, die unverheiratet mehrere Kinder bekommen hatten, mit der Diagnose der Schizophrenie entmündigt wurden und in eine Psychiatrie eingewiesen wurden.“ Unverheiratete Mütter galten damals als sexuell verwahrlost und ihre Kinder damit als von Verwahrlosung bedroht.

Es gab nicht nur Pharmaversuche, sondern auch sexualisierte Gewalt

Sylvia Wagner setzt ihre Recherchen fort. Es ist eine Lebensaufgabe. Beinahe jedes Kind, das zu jener Zeit in einem Heim aufwuchs, erlitt Traumatisierungen, auch durch sexuelle Gewalt. „Die Menschen sollen mitbekommen, was da geschehen ist. Viele Betroffene leben ja heute noch unter uns. Wir kennen vielleicht jemanden, von dem wir wissen, dass er in einem Kinderheim war und wundern uns, warum der manchmal so komisch ist. Ich wünschte mir, dass man durch die Lektüre meines Buchs solche Menschen besser versteht.“

In ärmeren Ländern sind Menschen noch heute Versuchsobjekte
Aber Sylvia Wagners Roman „heimgesperrt“ blickt nicht nur zurück – auch die Gegenwart wird von Skandalen erschüttert. Die Autorin verweist auf aktuelle Fälle wie jenen eines bekannten Psychiaters, der Kindern und Jugendlichen aufgrund von Diagnosen, die sich in keinem Lehrbuch finden, Medikamente verschrieb. „Zudem werden in ärmeren Ländern“, sagt Sylvia Wagner, „auch in Osteuropa, Menschen ohne direkte Einwilligung für Versuche herangezogen. Oft können sie sich Medikamente nicht leisten. Da bekommt also zum Beispiel ein Krebspatient irgendein Angebot von der Klinik für ein Medikament, das noch nicht auf dem Markt ist, aber angeblich genau zu seiner Tumorart passen würde; und dann müssen die Menschen da mitmachen, weil sie sonst gar kein Medikament bekämen. Aber das ist nicht wirklich freiwillig.“

Hannah zuzusehen, wie sie die Machenschaften enthüllt, ist spannend

Sylvia Wagners Romanfigur Hannah geht diesen Missständen auf den Grund und kommt den Machenschaften von Behörden, Ärzten und Pharmakonzernen auf die Spur. Ihr dabei zu folgen, ist spannend. Gibt es für Sylvia Wagners Protagonistin einen Lichtblick? „Natürlich ist auch sie traumatisiert“, sagt die Autorin. „Aber es ist für sie dennoch eine tiefe Befriedigung, Licht ins Dunkel gebracht zu haben. Nachdem die Behörden es abgestritten hatten, mussten sie nun eingestehen, dass Kindern in Heimen gegen ihren Willen Medikamente verabreicht wurden und sie Objekte der Forschung waren. Die ehemaligen Heimkinder wurden nicht gehört, aber jetzt können ihre Stimmen nicht mehr ignoriert werden.“ Dies ist Sylvia Wagners sorgfältigen wissenschaftlichen Recherchen und ihrem spannenden Roman „heimgesperrt“ zu verdanken.

ISBN 978-3-948013-21-9

251 Seiten

€ 20,00

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<a href="https://buchszene.de/redakteur/simone-lilienthal/" target="_self">Simone Lilienthal</a>

Simone Lilienthal

Geboren und aufgewachsen in München, studierte Simone Lilienthal, Jahrgang 1984, in Frankfurt Deutsch und Französisch aufs Lehramt. Nach dem Referendariat entschloss sie sich aber für die Freiheit und ein Leben als Autorin. Simone Lilienthal schreibt für verschiedene Magazine und arbeitet im Café.

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