heimgesperrt

ISBN 978-3-948013-21-9

251 Seiten

€ 20,00

In „Heimgesperrt“ erzählt Sylvia Wagner, wie sie auf der Suche nach der Mutter auf die ungeheuerlichen Methoden von Pharmaindustrie, Psychiatrie und Kinderheimen stieß.

In ihrem Roman „heimgesperrt“ erzählt Sylvia Wagner von ihrer Kindheit im Heim und Verbrechen an Kindern

Ttitelbild heimgesperrt

Frau Wagner, Ihr Buch „heimgesperrt“ ist ein Roman. Allerdings basiert er auf Ihren eigenen Erfahrungen im Kinderheim und auf den Erzählungen anderer Erwachsener, die in Kinderheimen oder psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren. Warum haben Sie trotz der Tatsachengrundlage einen Roman daraus gemacht?

Das Buch basiert auch auf meinen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Thema der Arzneimittelversuche an Heimkindern habe ich thematisiert und eine Doktorarbeit darüber verfasst. Die Tatsachengrundlage habe ich also selbst erforscht. Nun wollte ich das Thema aber auch einer breiteren Leserschaft zugänglich machen. Die Form des Romans schien mir außerdem geeignet, auch der Perspektive und den Emotionen Betroffener Ausdruck zu verleihen.

Es berührt zutiefst, wenn man liest, wie Sie aufwuchsen, ohne zu wissen, wer Ihre Eltern sind. Ist das Schreiben und Sprechen darüber etwas, das Ihren Schmerz lindern kann oder wühlt es Sie immer wieder aufs Neue auf?

Durch meine persönlichen Erfahrungen, aber auch durch meine wissenschaftlichen und privaten Recherchen hatten sich viele Emotionen in mir aufgestaut. Das Schreiben hat mir auf jeden Fall geholfen, das alles loszulassen.

Ihre unverheiratete Mutter bekam drei Kinder von drei verschiedenen Männern, die ihr alle weggenommen wurden und sie landete dann in der Psychiatrie mit der Begründung, sie leide unter Schizophrenie. Sie haben den Fall aufgearbeitet. Was ist Ihre Theorie, warum Ihre Mutter wirklich in der Psychiatrie gelandet ist?

Es ist so, dass meine Mutter nach meiner Geburt entmündigt wurde und schließlich in eine Psychiatrie eingewiesen wurde. Die Diagnose Schizophrenie stand immer im Raum, wurde aber nie eindeutig gestellt. Hingegen konkretisierte sich in ihrer Krankenakte mein Verdacht, dass man sie in der Psychiatrie festhielt, damit sie nicht noch weitere Kinder bekommt. Ich habe bei meinen Recherchen gesehen, dass auch andere Frauen, die unverheiratet mehrere Kinder bekommen hatten, mit der Diagnose der Schizophrenie entmündigt wurden und in eine Psychiatrie eingewiesen wurden. Das erhärtet die These, dass es sich bei meiner Mutter nicht um einen Einzelfall handelte. Der Hintergrund ist ja, dass unverheiratete Mütter damals als verwahrlost galten und ihre Kinder als von Verwahrlosung bedroht. Das durfte es nicht geben.

Sie schildern in „heimgesperrt“ erschreckende Zustände in Kinderheimen – Kinder wurden von Nonnen, Pflegern und anderen Kindern gequält, sie bekamen ohne medizinische Notwendigkeit Medikamente verabreicht und wurden lieblos behandelt. Wenn Sie zurückdenken: Was war das Zerstörerischste, was Ihnen oder anderen Kindern angetan worden ist?

Nicht als Mensch gesehen zu werden, sondern als Objekt. Den Kindern wurde keine Würde zugestanden. Es herrschte Unberechenbarkeit und Willkür. Die Gewalt war schlimm, aber hätte es zugleich einen Zufluchtsort gegeben, an dem man auch mal Zuwendung und Liebe erfahren hätte, so hätte das als eine Art innerer Anker fungieren können. Aber das gab es nicht. Es gab keinen Halt.

Ihr Buch basiert nicht nur auf eigenen Erfahrungen, sondern auf intensiver Recherche. Wie lange hielten die von Ihnen geschilderten Zustände in Kinderheimen an?

Auf jeden Fall bis Anfang der 1970er Jahre. Danach besserten sich die Zustände langsam. Das konnte aber für jede Einrichtung unterschiedlich schnell gehen. Es gibt jedoch auch bis in die heutige Zeit Einrichtungen, in denen Gewalt und Einschüchterung herrschen.

Sie berichten von anderen ehemaligen Heimkindern, deren Leben durch die menschenverachtenden Methoden ihrer Betreuer schwer beschädigt wurden. Geht Ihnen ein Schicksal besonders ans Herz?

Es gibt tausende Schicksale, die alle einzigartig und doch wiederum auf eine schreckliche Art gewöhnlich sind. So gesehen geht mir jedes Schicksal besonders ans Herz. Aber um Ihre Frage konkret zu beantworten: in den letzten Jahren sind mehrere ehemalige Heimkinder gestorben, die ich persönlich kennen gelernt habe. Zum Teil habe ich ihre Schicksale in das Buch mit eingeflochten. Das Bedrückende an ihrem Tod ist, dass die meisten von ihnen nicht einmal siebzig Jahre alt geworden sind. Sie sind viel zu früh gestorben, was sicherlich auch mit ihren Biografien zusammenhängt. Das geht mir nahe. Und wenn man jemanden persönlich kennt, berührt es einen natürlich mehr.

Haben Sie auch Einblicke in die aktuelle Situation von Kindern in Heimen? Können Sie ausschließen, dass solche Missstände – die bis tief in strafbare Bereiche hineinreichten – wirklich abgestellt sind?

Der aktuelle Fall des bekannten Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff zeigt, dass es auch heute noch Missstände in Einrichtungen geben kann. Winterhoff hatte Kindern in Heimen zweifelhafte Diagnosen gestellt, die es wissenschaftlich nicht gibt, und aufgrund dieser Diagnosen ruhigstellende Medikamente verordnet. Er ist nun angeklagt wegen gefährlicher Körperverletzung. Das ist aber nur ein prominenter Fall. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder und Jugendliche in Heimen sedierende Präparate erhalten. Aber nicht nur in Heimen ist das ein Thema. Auch außerhalb von Heimen erhalten immer mehr Heranwachsende sedierende Präparate. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Obwohl man Sie schlecht behandelt hat und Sie mit sehr ungünstigen Voraussetzungen ins Leben gestartet sind, ist Ihnen mit dem Studium der Pharmazie, Ihrer Promotion und Ihrem Erfolg als Autorin ein beeindruckender Lebensweg gelungen. Viele andere, denen es ähnlich erging, kamen unter die Räder. Können Sie sich erklären, warum Sie trotz der schlimmen Erfahrungen Ihren Weg gehen konnten?

Nein, es ist mir selbst ein Rätsel. Es spielten bestimmt mehrere Faktoren eine Rolle. So konnte ich in entscheidenden Momenten die Weichen in die richtige Richtung stellen, um zum Beispiel aufs Gymnasium gehen zu können. Sicherlich gehörte aber auch Glück dazu.

Was bedeutet es, ohne Wissen über den eigenen Vater und die Mutter aufzuwachsen?

Ich habe mich als Heranwachsende immer gefragt, wie es sich anfühlt, Eltern zu haben. Denn für mich war es ja normal, ohne Eltern aufzuwachsen. Was natürlich nicht heißt, dass ich nicht darunter gelitten hätte. Ohne Eltern oder entsprechende Bezugspersonen fehlt der bedeutende Halt im Leben.

Bitte sagen Sie noch etwas zu den Medikamenten, die Kindern und auch Erwachsenen wie Ihrer Mutter gegen ihren Willen verabreicht wurden. Was waren das für Mittel?

In vielen Fällen wurden Neuroleptika verabreicht. Das sind Präparate, die gegen die Symptome einer Schizophrenie, wie Wahn und Halluzinationen, eingesetzt werden. Sie heilen die Krankheit nicht. Sie besitzen aber auch sedierende, also ruhigstellende Eigenschaften.

Warum hat man diese Medikamente verabreicht?

In Heimen wurden Neuroleptika oftmals ohne eine medizinische Indikation eingesetzt. Das hatte den Hintergrund, die Kinder mit diesen Präparaten ruhig zu stellen. So hatte man weniger Arbeit mit ihnen. Die Einrichtungen waren oftmals personell unterbesetzt und zudem hatten die Betreuerinnen und Betreuer in vielen Fällen keine qualifizierte Ausbildung. Mit der Sedierung der Kinder konnte man diese Defizite kompensieren. Möglicherweise war es aber auch so, dass die Präparate eingesetzt wurden, um Personal und damit Kosten zu sparen. Es gibt zudem Fälle, in denen Medikamente, auch als Spritzen, zur Bestrafung verabreicht wurden.

Welche Schäden können diese Mittel hervorgerufen haben? Welche Folgen hatten diese Tests für die Leben dieser Menschen?

Die damals eingesetzten Präparate hatten zum Teil akute Nebenwirkungen. Bei diesen Neuroleptika können es Krämpfe sein und eine Störung der Bewegungsabläufe. Neuroleptika beeinträchtigen zudem die Hirnentwicklung. So kann es zu lebenslangen Defiziten kognitiver Fähigkeiten kommen. Außerdem können Neuroleptika zu Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfall führen. So ist auch die Lebenserwartung verkürzt.

Sie deckten seinerzeit den Skandal auf – nämlich dass an Heimkindern unter anderem Impfstoffe und Psychopharmaka getestet worden sind. Meinen Sie, es werden noch heute Menschen für Experimente missbraucht?

Ja, es gibt eine sogenannte „Globalisierung der klinischen Forschung“. Heute werden Arzneimittel vor allem in Asien, Osteuropa, Südamerika und Südafrika an Menschen unter rechtlich und ethisch fragwürdigen Bedingungen getestet. Pharmakonzerne beauftragen spezielle Unternehmen für die Studien. So tragen sie vermeintlich selbst keine Verantwortung dafür.

Inwiefern hat das von Ihnen beschriebene System auch mit der Zeit des Nationalsozialismus zu tun?

Es gab eine Kontinuität aus der Zeit des Nationalsozialismus heraus. Sowohl Pharmaunternehmen, als auch einzelne Mediziner und Behördenvertreter, die an Menschenversuchen in Konzentrationslagern oder an der sogenannten Euthanasie beteiligt waren, konnten nach der NS-Zeit zum Teil ungehindert ihre Tätigkeiten wieder aufnehmen und beispielsweise Arzneimittel an Heimkindern testen.

Aber die Verantwortung auf alte Nazis abzuschieben, greift zu kurz?

Ja, auf jeden Fall. Denn die Praxis, dass Arzneimittel an Heimkindern oder anderen vulnerablen Gruppen getestet wurden, gab es auch schon vor der Zeit des Nationalsozialismus. Dem lag ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, das in der Gesellschaft verbreitet war. Heimkinder galten als „verwahrlost“ und damit minderwertig. Dieses Menschenbild bestand mehr oder weniger bis in die junge Bundesrepublik fort. Nur vor diesem Hintergrund war der menschenverachtende Umgang mit den Heimkindern möglich. Für die Forschenden waren sie „Menschenmaterial“.

Haben Sie eine Idee, wie verhindert werden kann, dass Kinder derart schutzlos Gewalt ausgeliefert werden wie dies in Kinderheimen der Fall war?

Heute ist jede Einrichtung verpflichtet, ein Schutzkonzept vorzulegen. Dieses sollte permanent weiterentwickelt und verbessert werden. Ein wichtiger Teil derartiger Schutzkonzepte ist, dass Kinder ihre Rechte kennen. Sie müssen wissen, an welche Stellen sie sich wenden können, wenn sie in der Einrichtung Gewalt erfahren. Zur Prävention gehört auch, dass es genügend qualifiziertes Personal gibt.

Wir wollen das Ende Ihres Romans nicht verraten. Aber würden Sie sagen, dass Ihr Buch auch etwas Aufbauendes an sich hat?

Auf jeden Fall. Leser*innen sagen: Das Buch ist zwar erschütternd – aber auch spannend und ergreifend. Außerdem kann das Thema nicht mehr unterdrückt und verdrängt werden, wie es lange geschah.

ISBN 978-3-948013-21-9

251 Seiten

€ 20,00

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Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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