Frau Millner, Sie haben bereits über 30 Bücher veröffentlicht, viele davon wurden zu Bestsellern. Wie kam es nun zu Ihrem literarischen Debüt?
Auslöser war die Anfrage eines Online-Magazins, über meine eigene Adoption zu schreiben. Das war 2018. Anlässlich des Muttertags sollten einige Mütter Essays verfassen – und ich war für meine explizit schwarze Perspektive auf Mutterschaft bekannt. Als ich darüber nachdachte, was dazu geführt haben mag, dass ich von meiner leiblichen zu meiner Adoptivmutter gefunden habe, formte sich die Geschichte.
Dann haben Sie einige Jahre daran geschrieben?
Anfangs habe ich vor allem darüber nachgedacht, die ersten Worte schrieb ich nicht vor meinem 50. Geburtstag etwas später in diesem Jahr nieder. Etwa anderthalb Jahre arbeitete ich daran, den Buchvertrag erhielt ich jedoch erst im Sommer 2020 – ein paar Monate nach dem Lockdown und der massiven Black-Lives-Matter-Bewegung.
In den Geschichten von Rae, der leiblichen Mutter Grace und der Adoptivmutter Delores steckt also auch viel Eigenes. Wie war es für Sie, sich literarisch mit so persönlichen Themen auseinanderzusetzen?
Ich habe sämtliche Gefühle durchlebt: Aufregung, Überraschung, Wut, Sehnsucht, Trauer. Das Traurigste war die Entdeckung, dass das auf meiner Geburtsurkunde verzeichnete Krankenhaus in Wahrheit ein von der Heilsarmee betriebenes Heim für unverheiratete Mütter war. Ich fand heraus, dass ich meiner leiblichen Mutter wahrscheinlich weggenommen wurde. Es gab viele schmerzhafte Momente. Heute bin ich versöhnt, weil ich Antworten auf Fragen gefunden habe, die ich meiner Mutter nie gestellt habe – sie starb, bevor ich den Mut dazu aufbrachte. Und weil ich das Gefühl habe, meiner leiblichen Mutter die Gnade erwiesen zu haben, die ihr zusteht.
Ihr Roman umspannt rund 40 Jahre und ist in drei Bücher unterteilt: Grace, Delores und Rae. Dabei sind Ihre Hauptfiguren mit den großen Themen der amerikanischen Historie konfrontiert.
Ja, die Geschichte der Schwarzen in Amerika wird durch diese drei Frauen erzählt: Durch Grace sehen wir, wie sich im Süden während der Großen Migration Ungerechtigkeiten, Patriarchat und Religion verschwören, um eine redliche Familie auseinanderzureißen. LoLo (Dolores) erlaubt Einblicke ins New York während der Bürgerrechtsbewegung und des Kampfes für das Equal Rights Amendment, wo sexueller Terror, das Adoptionssystem, der Mangel an Frauenrechten und viele weitere Ungleichheiten die Frauen drangsalieren.
Und dann kommen wir in die Jetztzeit.
Nicht ganz: Rae führt ins Brooklyn der 1990er- und frühen 2000er-Jahre. Hier üben rassistische und geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten sowie bestimmte Erwartungen und Misogynie massiven Druck auf Frauen aus. Dieser manifestiert sich physisch in Raes Körper, macht sie buchstäblich krank. In jeder Geschichte untersuche ich, wie Race, Class und Gender, Kultur, Ehe, Hass und letztlich Liebe das Leben dieser drei Frauen prägen, die durch den Segen und den Fluch von – insbesondere schwarzer – Mutterschaft eng verbunden sind.
Ein zentrales Motiv in Ihrem Roman ist Blut. Wie stehen Sie zu dem Sprichwort aus dem Alten Testament: „Blut ist dicker als Wasser“?
Schon als Adoptivkind empfand ich es als recht respektlos gegenüber allen Beziehungen, die statt aus Blut aus anderem entstehen: Liebe, Zugewandtheit, Empathie, Geduld, Respekt, Loyalität, Vertrauen, Fürsorge, Bemühen. Es braucht nicht dasselbe Blut, um Werte wie diese zu vermitteln oder um stabile, vielfältige Beziehungen zu führen. Auf Blutsverwandte wirkt der Spruch wahrscheinlich beruhigend. Aber ich weiß es besser.
Der Inhalt des Romans kurz zusammengefasst:
Obwohl Grace ihr Neugeborenes unbedingt behalten will, wird es der ledigen Afroamerikanerin weggenommen. Tochter Rae wächst unbeschwert bei ihren Adoptiveltern Delores und Tommy auf. Die Frage nach ihrer Herkunft stellt sich Rae erst, als der Tod ihres Vaters ein Geheimnis offenbart. Brillant verwebt Denene Millner die Leben von Grace, Delores und Rae zu einem generationenumspannenden Epos von den Südstaaten in den 1960ern über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung bis ins heutige New York – und erzählt so individuelle Schicksale, in denen das große Ganze aufschimmert.