Dieser Roman basiert auf einer wahren Familiengeschichte
Dieser Roman ist eine autofiktionale Erzählung, eine Familiengeschichte. Vigdis Hjorth lässt sie aus der Sicht der ältesten Tochter Bergljot erzählen. Auslöser ist ein Erbstreit um zwei Ferienhütten auf der Insel Hvaler, die an die beiden Töchter Åsa und Astrid vererbt werden sollen und nicht an Bergljot und ihren älteren Bruder Bård. Die Eltern, 80 und 85 Jahre alt, haben so entschieden und Bård, der sich auch wegen des geringen Schätzwertes der Hütten ungerecht behandelt fühlt, nimmt zu Bergljot nach Jahrzehnten wieder Kontakt auf.
Versöhnung kann nur stattfinden, wenn alle ihre Version vortragen dürfen
Bergljot hatte schon vor mehr als 20 Jahren mit ihrer Familie gebrochen und wird nun wieder mit ihr konfrontiert. Sie hatte sich dafür entschieden, das schwarze Schaf zu sein, doch nun erkennt sie, ihre Geschichte sollte in den Erbstreit mit einbezogen werden in den Streit um die Hütten auf Hvaler. Sie hat Entsetzliches erlebt. Versöhnung, weiß sie, kann nur stattfinden, wenn alle Seiten eines Konfliktes ihre Geschichte vortragen dürfen.
Der Familienstreit verursacht bei allen Beteiligten große Schmerzen
Sie fragt ihre Freundin Klara, warum sie so aufgeregt sei wegen dem Thema. „Es sitzt tief, Bergljot“ es sitzt verdammt tief“, sagt Klara. „Und jetzt wollen sie dich auch noch betrügen, während du eigentlich eine Entschädigung bekommen müsstest, genau wie Bård, der vernachlässigte Sohn, stattdessen bekommt ihr beide weniger, stattdessen wollen sie sich an eurem Unglück bereichern.“ Nun nimmt die zweitjüngste Tochter, Astrid, Kontakt zu ihrer älteren Schwester auf. Erhofft sie sich Vorteile? Sie appelliert an die alten Eltern. Doch glaubten diese, die Beziehung der Geschwister untereinander würde von ihrer Entscheidung nicht berührt werden? Kurz darauf stürzt der Vater und stirbt. Die verbliebene Familie trifft sich. Entscheidende Worte fallen.
Ein brutales Aufeinandertreffen mit der Wahrheit, das ein Leben in Stücke reißt
Nach und nach werden die Geschehnisse, die damaligen, die zu den heutigen Konsequenzen geführt haben, aus Sicht der Ich-Erzählerin, Bergljot, enthüllt und entlarvt. Sie hat Jahrzehnte nach der Trennung von der Familie immer noch Schuldgefühle. Aber sie weiß auch, dass sie vor einer Konfrontation nicht weglaufen kann. „ich hatte ein Leben gelebt, das von Routinen getragen worden war, und dann passierte das, ein brutales Aufeinandertreffen mit der Wahrheit, das mein Leben in Stücke riss.“
Vigdis Hjorth macht uns zu Voyeuren eines Familiendramas
„Ein falsches Wort“ macht uns zu Voyeuren, wir sind froh nicht in der von Vigdis Hjorth sezierten Familiensituation zu stecken, sind aber auch atemlos, mit Wucht berührt von dem Geschehen. Großartig sensibel ausgeleuchtet ist der Blickwinkel der Tochter Bergljot. Wie sehen es die Eltern, wie sehen es die Geschwister, wie sieht die Ich-Erzählerin die Geschehnisse, wie schätzt sie sie ein?
Kann man sich von der eigenen Familiengeschichte befreien?
Die Eltern sind für Bergljot übermächtige Gestalten, aus deren Griff sich zu befreien jahrelange Therapie vonnöten war. Wie konnte dies geschehen? Sie beschreibt die Eltern und die Geschwister, analysiert gnadenlos. Man merkt die psychologische Klarheit, glaubwürdig und detailliert. „Irgendwann verblasst die Schönheit (der Mutter) und macht Platz für Jüngere, Jüngere die sie selbst aufgezogen hat.“ Und sie schreibt über den Vater: „die Mutter bekam die Wut ab, die eigentlich seiner eigenen kalten Mutter galt, die ihm zu wenig Liebe geben konnte.“
„Ein falsches Wort“ ist auch die Geschichte einer Heldinnenreise
Wenn, so weiß man, Bergljot sich nicht auf ihre Art mit der Vergangenheit auseinandersetzt, hat sie die Möglichkeit vertan, sich zu befreien. Das ist der rote Faden des Romans. „Aber wäre ich dann vor der Möglichkeit weggelaufen? Zu wachsen und etwas hinter mir zu lassen? Was, wenn ich mich einer entscheidenden Erkenntnis näherte?“, fragte sie sich, „vielleicht war jetzt der Augenblick, vielleicht war das die Aufgabe; und wenn ich sie verpasste, würde ich die wichtigste aller Lektionen niemals lernen, sondern hätte immer nur halbherzige Versuche unternommen und mich mit einfachen Antworten zufriedengegeben.“ Bergljot nimmt die Gelegenheit wahr und beginnt ihre eigene Heldenreise. Sie erkennt und beschreibt glasklar die Familiengeschichte, ist dennoch so verwoben und muss ihr Statement abgeben. Mit brutaler Eindringlichkeit formt sich ein Bild, dem man sich nicht entziehen kann. Wenn, so weiß man, Bergljot sich nicht auf diese Art auseinandersetzt, hat sie die Möglichkeit vertan, sich zu befreien. Das ahnt und begreift man auch als Leser.
„Du musst einsehen, dass es kein Kindergeburtstag ist, sondern Krieg.“
Mit aller Konsequenz stürzt sie sich mit dem Leser ins Geschehen und nimmt die Gelegenheiten wahr. Die Gedanken sprudeln. Man muss die Gedanken und Schlussfolgerungen von Bergljot aushalten – so wie sie ihr Leben aushalten musste. Sie seziert jede kleinste Reaktion von Mutter und Schwester. Sie versucht sich zu positionieren. Vigdis Hjorth lässt Bergljots Freundin Klara sagen: „Du musst einsehen, dass es kein Kindergeburtstag ist, sondern Krieg. Es geht um Leben und Tod. Das sind keine Friedensverhandlungen, sondern ein Kampf um Ehre und das, was bleiben wird.“
Mit Eindringlichkeit formt sich ein Bild, dem man sich nicht entziehen kann.
„Alles hängt mit allem zusammen. Kein Wort ist unschuldig für die, die zu verstehen versuchen.“ Jedes Kapitel gibt einen weiteren Aspekt preis, so wird permanent die Spannung gehalten. Mit Scharfsinn analysiert sie und mit dem betrachtenden Abstand (den die Protagonistin selbst versucht aufrecht zu erhalten), wird man in ein Gefühlsszenario geworfen, dem man einerseits entfliehen möchte, andererseits wie gebannt lauscht. Bergljot musste Verlust, Schmerz und Einsamkeit aushalten. „Die Gegenwart meiner verlorenen Kindheit, die ewige Rückkehr dieses Verlustes, machte mich zu der, die ich war, es war ein Teil von mir, es durchdrang selbst das schwächste Gefühl von mir“ – beeindruckend genau beschreibt sie und deckt auf. Man erfährt erst zum Ende des Buchs die ganze Wahrheit, die man durchgängig schon erahnt hat.
Die Erzählung entfaltet eine große Wucht, die tief berührt
Das Gewicht dieses Romans fordert heraus, doch wird man belohnt durch brillante Einsichten in den Gesprächen, Zitaten oder Gedanken. Mit vielen Aha-Wirkungen, die plötzlich beim Lesen überraschende Klarheit erzeugen. Man erfasst die psychologische Weitsicht, glaubwürdig und detailliert. Vigdis Hjorth erzeugt meisterhaft tiefgründige Spannung. „Ein falsches Wort“ ist ein wichtiger und eindringlicher Roman, der mir außerordentlich gut gefallen hat und lange nachwirkt.
Vigdis Hjorths Schwester konterte den Roman mit einem eigenen Text
Der autofiktionale Text führte tatsächlich zu einer Gegenreaktion der jüngeren Schwester, der Juristin Helga Hjorth, die ihre Sicht der Familiensituation in Romanform darstellte. Vigdis Hjorth wurde in ihrer Heimat Norwegen für dieses Buch mit dem Kritikerprisen ausgezeichnet sowie dem Bokhandlerprisen.