
© Kirill Skorobogatko shutterstock-ID: 1508834243
Frau Bluhm liest „Alles still auf einmal“: 5 von 5 Blu(h)men
Als der Amoklauf vorbei ist, stellt der kleine Zach fest, dass wer fehlt
Es ist ein ganz normaler Tag, an dem der sechsjährige Zach morgens aufsteht und zur Schule geht. Nach diesem Tag wird nichts mehr normal sein. Zach sitzt mit seiner Klasse versteckt im Wandschrank, als sich ein 19-jähriger Amokläufer Zutritt zur Schule verschafft und in wenigen Minuten 19 Leute, darunter 15 Schüler tötet, bevor die Polizei ihn erschießt. Traumatisiert wird Zach mit den anderen Überlebenden zu einer Sammelstelle gebracht, wo er zum ersten Mal darüber nachdenkt, wo sein Bruder Andy ist, der die gleiche Schule besucht. Andy ist eines der Opfer. Ein Schmerz ergreift Zach und seine ganze Familie, es ist ein Schmerz, der allgegenwärtig ist und allmächtig zu sein scheint. In den Wochen nach dem schrecklichen Verbrechen fühlt es nämlich so an, als ob mit Andy auch der Rest der Familie irgendwie gestorben wäre. So empfindet es zumindest Zach, dessen Gedanken wir auf 384 gefühlvollen Seiten folgen dürfen.
Rhiannon Navins „Alles still auf einmal“ ist leider nah an der Realität
Schon die ersten Seiten von Rhiannon Navins Roman „Alles still auf einmal“, die mitten in der Szenerie des Amoklaufs beginnen, bauen eine Atmosphäre der eindringlichen Spannung auf, die sich während der gesamten Lektüre halten wird. Die Geschichte, geschildert aus der Sicht eines kleinen Jungen ist furchtbar, gerade deshalb, weil sie, obwohl Rhiannon Navin rein fiktiv schreibt, überhaupt nicht so wahnsinnig unrealistisch ist, erreichen uns doch täglich Nachrichten, was wo auf der Welt schon wieder für Gräueltaten geschehen sind.
Zachs kindliche Ehrlichkeit, sein magisches Denken, sein Zorn sind echt
Besonders intensiv erlebt man diese Geschichte allerdings, weil sie direkt von einem Sechsjährigen erzählt wird, dessen Gedanken und Gefühle sehr unmittelbar und authentisch auf den Leser überspringen. Die kindliche Ehrlichkeit ist dabei genauso gut von der Autorin wiedergegeben wie das magische Denken, das für Kinder diesen Alters noch typisch ist. Die Szenen, in denen Zach sich fragt, warum alle nur noch so einseitig positiv von seinem Bruder sprechen, obwohl dieser doch oft sehr gemein und zornig war, sind emotional harter Tobak. Wenn sich Zach vorstellt, er könne im Wandschrank seines Bruders mit diesem sprechen, dann rührt dies einen beim Lesen beinahe zu Tränen.
Rhiannon Navin führt die Familie durch die fünf Phasen der Trauer
Doch sind es eher die Kleinigkeiten, die diesen Roman zu etwas ganz Besonderem machen: Rhiannon Navin führt Zach und seine Eltern durch die fünf Phasen der Trauer und lässt dabei nichts aus. Die Wut, die dem anfänglichen Schock folgt, spürt man besonders bei Melissa, Zachs Mutter, die unbedingt den Schuldigen finden will, und dabei auf die schockierten Eltern des jugendlichen Amokläufers losgeht. Zachs Vater versucht seine Gefühle zu unterdrücken und nach kurzer Zeit zur Tagesordnung überzugehen. Die Familie scheint an ihrer Trauer schon nach wenigen Wochen zu zerbrechen.
Der Wandschrank wird zu Zachs wichtigem Geheimversteck
In der Mitte steht immer der kleine Zach, der sich ganz oft unsichtbar und einsam fühlt, und sich bemüht mit eigengemalten Gefühlsbildern Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Seine Trauerbewältigung erleben wir aus unmittelbarer Nähe. Die alltäglichen Kleinigkeiten, durch die er sich selbst Halt gibt, wie der oben erwähnte Wandschrank, der sein Geheimversteck wird, und in dem er seinem Bruder vorliest, sind das, was Rhiannon Navins Geschichte Form und Gestalt geben. Ohne zu viel verraten zu wollen – diese kleinen, manchmal auch größeren Ideen, sind es, die dieses Buch in einem Höhepunkt münden lassen, der mich zum Weinen brachte.
Ein besonderer Junge, von dem man als Erwachsener viel lernen kann
Ganz gewiss ist „Alles still auf einmal“ kein Wohlfühlbuch, und doch ist es einem eine Lektüre, die einem persönlich sehr viel mitgeben kann. Ich war sehr beeindruckt davon, dass die Autorin es wirklich schaffte, nur bei Zach zu bleiben und die ganze Welt lediglich aus seiner Sicht wiederzugeben. Das nimmt der Geschichte ein wenig von ihrer brutalen Härte und lädt dazu ein, mit dem kleinen Jungen durch diese schwere Zeit zu gehen. Einem ganz besonderen, kleinen Jungen, von dem man auch als Erwachsener viel lernen kann.