Zwischen-euch-verschwinden-Gudrun-Lerchbaum

ISBN 978-3-7099-8210-5

252 Seiten

€ 16,90

Ist eine Leiche gleichbedeutend mit Schuld? Gudrun Lerchbaums Werkstattbericht über ihren Kriminalroman „Zwischen euch verschwinden“ lotet Grenzen aus.

Gudrun Lerchbaums Roman „Zwischen euch verschwinden“ erzählt von einer Pflege, die tödlich endet

Zwischen euch verschwinden Werkstattbericht

Fremder Atem kann tödlich sein – jedenfalls in Kriminalromanen

Immer geradeaus marschiere ich durch geisterstille Straßen auf den Stadtrand von Wien zu, die Sonne im Rücken. Rot-weiße Plastikgirlanden verhängen den Zugang zum Park. Eine Frau wechselt die Straßenseite, sobald sie mich sieht. Fremder Atem kann tödlich sein.

Die Verlagssuche gehört nicht zu den angenehmen Aufgaben einer Schriftstellerin

Es war im Mai 2020 während des Lockdowns, als ich überraschend ein Mail von der Dramaturgin eines deutschen Radiosenders bekam: Ob ich ihr ein Konzept für ein Krimihörspiel schicken wolle. Ein Lichtblick – mein erstes Hörspiel! Erst wenige Wochen zuvor hatte mir die Verlegerin meines letzten Buches eröffnet, dass mein sich in Arbeit befindlicher Roman nicht ins Programm passe: zu phantasievoll, zu wenig hart. Nun gehört Verlagssuche nicht gerade zu den angenehmen Seiten des Schriftstellerinnendaseins. Jedes meiner bis dahin drei Bücher war in einem anderen Verlag erschienen, weil ich mich auf der Suche nach der besten Geschichte nicht gern von Genregrenzen einhegen lasse. Mit anderen Worten: Ich war auch ohne Pandemie mies drauf.

Ich hastete den Wilhelminenberg hinauf – ich musste raus

Und weil ich immer raus muss, irgendwo rauf muss, wenn ich nicht weiß, wie ich weitermachen soll, hastete ich damals den Wilhelminenberg hinauf. Ich erreichte die Weinberge und fühlte, wie sich mit dem Blick auch meine Gedanken weiteten. Ich hatte Glück. Ich musste die Pandemie nicht mehr als Alleinerzieherin in einer kleinen Wohnung durchstehen. Meine Familie kam mit den Belastungen einigermaßen zurecht und die 24-Stunden-Pflegerin der Schwiegermutter hatte sich nicht in ihre Heimat geflüchtet, sondern hielt nun schon den dritten Monat die Stellung, weil ihre Ablöse nicht einreisen durfte. Trotz meiner beruflichen Probleme kreisten meine Gedanken um Fürsorge. Für mich ist das normal, doch vielen Menschen war erst unter dem Druck der Pandemie klargeworden, dass die Sorge um andere im Zentrum einer funktionierenden Gesellschaft steht. Und schon sind sie dabei, es wieder zu vergessen.

Die Heldin Maria ist eine Frau, die für andere sorgt – bis sie sterben

In der Wiese auf der Hügelkuppe sitzend, erdachte ich eine Frau, die ungesehen für andere sorgt: Maria. Ihre Patientin ist in der Nacht verstorben, erstickt, ohne dass sie hätte helfen können. Verstört von dieser Erfahrung verlässt sie das Haus, um kurz Luft zu schnappen, und wünscht sich plötzlich nichts sehnlicher als – was? Ein üppiges Frühstück, das sie nicht selbst zubereiten muss. Als sie zurückkommt, steht die Polizei vor dem Haus. Ein Anfang, eine Versuchsanordnung, wie sie jeder meiner Geschichten zugrunde liegt. Jetzt hieß es herauszufinden, was geschehen war. Hatte Maria aus Mitleid nachgeholfen? Warum sonst sollte sie nun Hals über Kopf fliehen? Ja, natürlich: Sie wusste selbst nicht, ob sie Schuld trug. Ihr Alltag verlief so eintönig, dass ihr manchmal Zeit und Realität entglitten.

Sie ist um die vierzig und nimmt sich selbst nicht wichtig

Okay, Maria ist um die vierzig, unauffällig, hat sich selbst nie wichtig genommen. Eine schweigende Antiheldin … Halt! Ich springe auf, mach mich auf den Weg ins Tal. Bitte nicht! Eine Schweigende in einem Hörspiel? Unmöglich! Aber was soll ich machen? Maria kriegt nun mal den Mund nicht auf. Andere müssten über sie reden. Doch bevor ich Ermittler:innen und eine empörte Öffentlichkeit über sie urteilen lasse, muss ich ihr Gelegenheit geben, die Geschehnisse aus ihrer Perspektive zu erzählen. Das klingt eher nach dem nächsten Roman, quasi als Vorarbeit zum Hörspiel. Eine spannende Story über eine auf den ersten Blick höchst langweilige Frau. Ob ich dieser Herausforderung gewachsen bin? Es gab nur eine Art, das herauszufinden!

Gibt es noch eine andere Tote? Was heißt unschuldig?

Wie Marias Schicksal wohl mit dem der rumänischen Pflegerin zusammenhing, die ich beim Öffnen der Haustür plötzlich ganz deutlich spürte, energisch und redselig, mit rauchiger Stimme und brutal zerschlagenem Gesicht? Ich lud sie auf einen Kaffee ein, um herauszufinden, was sie mit Maria ausheckt. Gibt es noch andere Tote? Kann Maria dennoch unschuldig sein? Doch bevor ich diesen Roman schreiben durfte, musste ich erst den anderen fertigstellen, den kürzlich abgelehnten. Story und Charaktere waren zu aufregend, um sie fallenzulassen. Das fand wenig später zum Glück auch Linda Müller vom Haymon Verlag. Meine Lieblingskollegin Ellen Dunne, inzwischen Glauser-Preisträgerin, hatte mich mit ihr in Verbindung gebracht. 2022 erschien dieser Roman bei Haymon unter dem Titel „Das giftige Glück“.

„Zwischen euch verschwinden“ erzählt von einer weiblichen Odyssee

Endlich durfte ich mich Maria widmen, sie auf ihrer Flucht vor sich selbst und zu sich selbst begleiten. Eine weibliche Odyssee, ein spannender Entwicklungsroman. Mit Blut. Es sammelt sich am Boden zwischen den Stühlen von Krimi und Roman. Ich glaube nicht an die oft kolportierte Regel, dass ein Buch zu 10% aus Inspiration und zu 90% aus Transpiration, also harter Arbeit, besteht. Für mich macht die Inspiration mindestens 51% aus, denn ohne sie beginne ich kein Buch. Und nichts treibt mich so schnell an den Schreibtisch wie eine neue Idee, die darauf drängt, mit Leben gefüllt zu werden, sobald das aktuelle Projekt abgeschlossen ist. Ob etwas ins Genre oder ins Verlagsprogramm passt, in diese oder jene Schublade, darauf kann ich dabei keine Rücksicht nehmen. Meine Arbeit ist es, Geschichten zu schreiben und die neueste heißt: „Zwischen euch verschwinden“.

ISBN 978-3-7099-8210-5

252 Seiten

€ 16,90

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