Kürzlich fragte mich mein Sohn Leonhard, warum wir ihn so klein gemacht hätten. In seiner Klasse gebe es nur einen einzigen, der noch kleiner sei. Was wir uns nur dabei gedacht hätten! Ich verzichtete auf den Hinweis, dass Helena und ich, während wir ihn „machten“ nur sehr wenig Energie auf das Denken verwendet haben. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an diesen Nachmittag. Man muss sagen, dass da einfach anderes im Vordergrund stand. Aber natürlich wollte ich meinen Sohn nicht beleidigen. Deshalb fragte ich, was er denn dagegen einzuwenden habe, klein zu sein?
Es werde ihm im Schulbus auf den Ranzen geklopft, sogar von Mädchen, erläuterte Leonhard. Zudem zeigten größere Buben auf dem Pausenhof auf ihn und lachten hämisch. Er vermute, meinte Leonhard, dass dies mit seiner Kleinheit zu tun habe. Er sagte dies sehr ernst und sachlich. Ich muss gestehen, dass mich seine Erzählung rührte. Nicht nur, dass es diese Hänseleien überhaupt gab, sondern auch, dass Leonhard, der nun schon bald ein Jahr zur Schule geht, nie davon erzählt hatte, gab mir zu denken.
„Weißt du“, sagte ich daher, kniete nieder und legte ihm meine Hand auf die Schulter. „… vor vierzig Jahren gab es schon einmal einen Jungen, der immer und überall der kleinste war. Rate mal, wer?“
„Du?“, fragte mein Sohn. Ich nickte. Und ich sah, dass sich auf den Lippen dieses kleinen ernsten Gesichts Erleichterung andeutete.
„Ich war sogar noch in der siebten Klasse der Kleinste am ganzen Gymnasium“, sagte ich. „Kleiner als alle Fünftklässler“, sagte ich, „kleiner als alle Sechstklässler …“
„Und kleiner als alle Siebtklässler?“, fragte Leonhard.
Ich nickte. „Und schau mich heute an“, sagte ich. Er schaute mich an. „Wie bin ich?“
„Na ja“, meinte mein Sohn und rümpfte ein bisschen die Nase. „Nicht groß.“
„Aber?“, fragte ich.
„Auch nicht klein – also nicht so richtig klein.“
„Ich finde, dass ich gerade richtig bin“, meinte ich. „Aber ich musste das auch erst herausfinden“, erklärte ich. „Es hat natürlich Nachteile, klein zu sein.“
„Die hauen einem auf den Schulranzen“, meinte Leonhard.
„Genau“, meinte ich. „Das ist doof. Außerdem ist es unpraktisch, wenn man Mädchen küssen will. Weil wenn die höher sind, dann kommt man nicht gut hin.“
„Ich will überhaupt keine Mädchen küssen“, meinte mein Sohn.
„Man muss zusehen, dass man die Mädchen, die man küssen will, relativ schnell dazu bringt, sich hinzusetzen oder hinzulegen“, sagte ich, ohne auf seinen Einwand einzugehen. Besser, er wusste ein paar Dinge schon, bevor er in solche Situationen kam.
„Auch beim Prügeln ist es schlecht.“
„Wir sollen uns doch nicht prügeln, hast du gesagt, Papi“, sagte Leonhard sehr schnell.
„Aber manchmal muss man prügeln“, erklärte ich.
„Echt?“ Er konnte es gar nicht glauben. Ich nickte. „Hast du dich schon mal geprügelt, Papi?“
Ich nickte noch einmal. „Sogar dreimal. Zweimal habe ich verloren. Aber einmal gewonnen. Mit einem Trick.“
„Was für ein Trick?“ Mein Sohn war jetzt sehr interessiert.
„Es war so, dass mich einmal auf einem Campingplatz ein sehr dicker, großer Bub beleidigt hatte. Und der wollte diese Beleidigung einfach nicht zurücknehmen. Deshalb sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir die Sache ausprügeln müssen. Um zwei am Toilettenhaus, hat er gesagt. Ich bin zu unserem Zelt zurück und hatte Angst.“
„Echt, hattest du auch mal Angst, Papi?“ Mein Sohn staunte, er lernte mich gerade von völlig neuen Seiten kennen.
„Und wie“, sagte ich. „Aber da war ja noch mein Vater.“ Mein Sohn starrte mich wie gebannt an. „Mein Vater hatte viel Prügelerfahrung, weil er einen großen Bruder hatte, mit dem er seine ganze Kindheit das Prügeln üben hatte können. Mein Vater also hat mir gesagt: Gleich zu Beginn der Prügelei musst du hinrennen, dich hinknien und dem dicken Jungen die Füße wegziehen. Dann fällt er hin, wegen der Schwerkraft von seiner Dickheit. Das habe ich gemacht.“
„Guter Trick“, meinte mein Sohn anerkennend.
„Ja“, sagte ich, „hat funktioniert. – Weißt du, wenn man klein ist, muss man gute Tricks haben. Aber man hat als Kleiner ja auch Vorteile: Kleine können meistens ziemlich schnell rennen.“
„Kann ich“, sagte mein Sohn und nickte.
„Und sie könne meistens gut klettern und sich gut an kleinen Orten verstecken.“
„Kann ich“, sagte mein Sohn erneut.
„Und sie können meistens gut reden, weil sie haben ja wenig Muskeln“, sagte ich.
„Kann ich eigentlich auch“, meinte mein Sohn.
„Außerdem haben wir Kleinen im Flugzeug und im Bus, im Auto und im Theater mehr Platz für unsere Beine.“
Jetzt schwiegen wir beide. Dann sagte mein Sohn: „Weißt du Papi, mir tun der Benedikt und der Josef leid.“
„Wieso?“, fragte ich.
„Na ja, weil die so groß sind. Die können das alles ja gar nicht, was wir kleinen können.“
„Na ja“, meinte ich. „Die können dafür was anderes: Bücher aus hohen Regalen holen, schwere Sachen tragen, und richtig gut prügeln. Aber weil das so ist, habe ich immer versucht, mindestens einen Freund zu haben, der richtig groß ist. Weil der kann all die Sachen machen, die ein Großer machen kann. Und ich …“
„… du“, meinte mein Sohn, „kannst all die Sachen machen, die ein Kleiner machen kann.“
Damit war das Gespräch beendet. Am nächsten Tag kam mein Sohn Freude strahlend von der Schule nach Hause. „Papi“, rief er, „es hat geklappt!“ Ich sah ihn neugierig an. „Die Mädchen haben mir im Bus wieder auf den Schulranzen gehauen.“
„Und da freust du dich?“, fragte ich.
„Ja, weil dann hat sie der Benedikt so richtig verprügelt.“
P.S.: In meinem Personalausweis stand früher immer, dass ich 1,73 Meter groß bin. Aber nachdem ich Helena kennengelernt hatte, die auch 1,73 Meter groß ist, lasse ich in neue Ausweise stets die Körpergröße 1,74 Meter eintragen.
P.P.S.: Wie es aussieht, wird unser Sohn eher nicht so groß werden. Dafür wird unsere Tochter Elsa uns alle mal überragen. Sie hat vermutlich die Gene ihrer großen schwedisch-allgäuerischen Urgroßtanten geerbt. Leonhard und Isabella dagegen jene meines sehr kleinen Opas, unter dessen Vorfahren Römer gewesen sein müssen.
P.P.P.S.: Eines meiner Lieblingskinderbücher ist „Der kleine Mann“ von Erich Kästner.