Ein elegantes nachmittägliches Nickerchen am Swimming-Pool
Wenn der Kolumnist im Urlaub ist und der seit 40 Tagen heiß ersehnte Regen den auf 38 Grad Celsius erhitzten, italienischen Himmel zerreißt; wenn die Kinder des Kolumnisten lesenderweise mit David Williams‘ „Kicker im Kleid“, Sabine Ludwigs „Die schrecklichsten Mütter der Welt“ und Isabel Abedis „Die längste Nacht“ im Bett liegen und die Frau des Kolumnisten ihre schlanken Beine für ein elegantes nachmittägliches Nickerchen am Rand des Swimming-Pools abgelegt hat, kann es passieren, dass der Kolumnist nachdenklich wird.
Muss man es nicht einfach nur sehen lernen, das Gute?
Wieso? Nun, für all die Menschen auf den Campingplätzen bedeutet der Regensturm fliegende Zeltplanen, Angst vor Blitz, umstürzenden Bäumen & Co. und obendrein durchfeuchtete Betten. Aber ist es nicht so, dass all das Schlechte im Leben oftmals auch etwas Gutes in sich birgt? Muss man es nicht einfach nur sehen lernen, das Gute? Wie der Kolumnist beispielsweise seine Frau kennenlernte: eine Verkettung von Unglücken, die im größten Glück gipfelte. Wäre Helenas Vater mit 50 Jahren nicht viel zu früh gestorben, hätte Helenas Mutter nicht noch einmal Geld verdienen müssen. Constanze tat dies in einem internationalen Damenmodenkonzern, der sich auf die Geschmäcker allzu schnell zu Wohlstand gekommener Metzgersgattinnen spezialisiert hatte.
Der Kolumnist betätigte sich in Sachen Luxus-Damenmode
Just zur selben Zeit glaubte der Kolumnist wider jede Vernunft – er war seinerzeit noch Student der Germanistik – seine berufliche Zukunft liege in der Damenmode, oberes Luxussegment. Also absolvierte er ein Praktikum bei ebenjenem Bekleidungskonzern für Metzgersgattinnen und lernte bei dieser Gelegenheit seine Vorgesetzte Constanze kennen, die Mutter seiner Zukünftigen. Wovon er freilich nichts ahnte.
Sie sei von ebenmäßiger Figur, ihre Lippen hätten die Fülle reifer Pflaumen
Und wie taub er sich stellte, wenn die Chefin ihm beim gemeinsamen Hängen gülden besäumter, in ihrer Uniformartigkeit grenzenlos geschmacklosen Damenjacketts von ihrer Tochter vorschwärmte: Helena sei von ebenmäßiger, schlanker Figur, ihre Lippen hätten die Fülle reifer Pflaumen, ihre Augen glänzten grünblau wie Edelsteine. Der Kolumnist tat sich schwer, sein Gähnen zu verbergen. Konnte es anders sein als dass diese Mutter bei der Beschreibung der Schönheit ihrer Tochter maßlos übertrieb? Welche vernünftige Mutter täte dies nicht?
Sie sei Model, mache demnächst Abitur und interessiere sich für Kunst
Alle Einladungen, nach der Arbeit doch mal auf einen Wein mitzugehen – die Familie lebte seit dem Tod des Vaters zur Miete im Dachgeschoss einer alten Villa – schlug der Kolumnist aus. Auch überhörte er sämtliche Hinweise, die ihn eigentlich hätten neugierig machen müssen auf diese junge Frau. Helena sei 20 und modele gelegentlich, berichtete Constanze; sie sei im Übrigen sportlich und mache demnächst Abitur; sie habe ein Jahr in Amerika gelebt, spreche fließend Englisch, interessiere sich für Kunst und wolle dies beizeiten auch studieren.
Es brauchte ein zweites Unglück, damit die Liebe eine Chance bekam
An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein. Doch sie war es nicht. Denn dem mit Blindheit und Taubheit geschlagenen Kolumnisten sprang ein weiteres Unglück bei: Constanze nötigte einen Bus, den sie im dichten Stadtverkehr übersehen hatte, zu einer Vollbremsung. Sie hielt erschrocken an, entschuldigte sich beim Fahrer, welcher sie beruhigte: Es sei niemandem etwas passiert. Und sie fuhr weiter. Hinterher stellte sich heraus, dass sich wohl doch eine ältere Dame eine Beule zugezogen hatte. Constanze wurde für vier Wochen der Führerschein entzogen, wegen Fahrerflucht. Diese an sich unerfreuliche Tatsache führte dazu, dass Constanze eine Chauffeurin brauchte, die sie morgens in die Arbeit brachte.
Sie trug einen Minirock und war um die 20
Eines Morgens parkte der Kolumnist seinen Wagen vor dem Modekonzern. Als er ausstieg, steuerte der Sportwagen seiner Chefin die Parklücke hinter ihm an. Constanze entstieg der Beifahrertür. Dann öffnete sich die Fahrertür. Zuerst erblickte der Kolumnist ein langes schlankes Bein, dann noch eines. Dem Fahrzeug entwuchs die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Sie trug einen Minirock und musste um die 20 sein. Ihre Lippen waren voll wie reife Pflaumen, ihre Augen glänzten grünblau wie Edelsteine. Die Chefin hatte nicht übertrieben.
Den Kolumnisten überkam großer Schmerz
Der sonst niemals um ein Wort verlegene Kolumnist war sprachlos angesichts dieser Erscheinung. Und blieb dies auch die ganze halbe Stunde, welche diese Helena in den Räumen des Modekonzerns verbrachte. Ihm fiel einfach nichts, aber auch rein gar nichts ein, wie er mit ihr ins Gespräch hätte kommen können. Alles, was er in Erwägung zog, kam ihm angesichts ihrer Grazilität tumb und dumm vor. Tja, und dann war sie wieder weg. Kann man verstehen, dass den Kolumnisten ein großer Schmerz überkam.
Also trat er vor seine Chefin hin und sagte es
Drei Tage lang brütete er darüber, was nun zu tun sei. Drei Tage war er wütend auf sich und seine Torheit: Warum hatte er sämtliche Einladungen Constanzes ausgeschlagen, die Familie zu besuchen? Nach drei Tagen – es ging nicht anders, er musste es tun – trat er vor seine Chefin und sagte: Ich würde Ihre Tochter gerne kennenlernen. Und er lernte sie kennen.
Manchmal braucht es doppeltes Unglück, damit am Ende einer Glück haben kann
Manchmal, denkt sich der Kolumnist, das Gewitter ist vorübergezogen, braucht es doppeltes Unglück, damit am Ende einer Glück haben kann. Manchmal auch ist des einen Unglück des anderen Glück. Für die italienischen Bauern bringt der nach 40 Tagen eingetretene Regen die begründete Hoffnung mit sich, die Olivenernte könnte in diesem Jahr vielleicht doch noch etwas werden.
P.S.: Haben auch Sie eine spannende oder ungewöhnliche Geschichte, wie Sie Ihren Geliebten oder Ihre Geliebte kennenlernten? Dann schicken Sie sie an joerg@steinleitner.com! Aus den schönsten Einsendungen macht unser Kolumnist eine Kolumne.