Jörg Steinleitner: Herr Hahne, Ihr aktuelles Buch zur Wertediskussion heißt „Suchet der Stadt Bestes. Werte wagen – für Politik und Gesellschaft“. Der Untertitel legt nahe, dass heute ein gewisser Wagemut dazu gehört, in Politik und Gesellschaft wertebewusst zu handeln. Meinen Sie das wirklich?
Peter Hahne: Mut und Demut stehen unserer Führungselite gut zu Gesicht. Dass es an beidem mangelt, zeigt der Blick in die täglichen Nachrichten. Mein Buch will praktischer Ansporn und Anstoß zu einer Nachricht sein, nach der man sich richten kann. Wir brauchen Information, die in Form bringt, die Lebenshilfe für die Probleme des Alltags bietet. Die enorme Resonanz zeigt mir, dass hier in der Tat Nachholbedarf besteht.
Jörg Steinleitner: Welche ganz konkreten Ereignisse der jüngeren Vergangenheit lassen Sie schlussfolgern, dass es mit dem Wertebewusstsein in Politik und Gesellschaft nicht weit genug her ist?
Peter Hahne: Das geht von hemmungsloser Korruption bis zum Wortbruch bei Wahlversprechen, von der Zunahme der Schwarzarbeit bis zur Abnahme von Solidarität. Der Verlust der Werte wie Ehrlichkeit und Fairness lässt sich sogar in Euro und Cent berechnen, nimmt man nur die Schäden durch Mobbing oder Versicherungsbetrug. Nein, das ist längst kein Randthema unserer Gesellschaft mehr, das trifft mitten ins Herz.
Jörg Steinleitner: Worin sehen Sie das Hauptproblem?
Peter Hahne: In einem überzogenen Anspruchsdenken unserer Führungselite, das sich wie eine Epidemie in alle Schichten der Gesellschaft ausbreitet. Nach dem Motto: Wenn die da oben sich kostenlose Luxusflüge und üppige Managergehälter genehmigen, dann darf ich doch wohl mein Fahrtenbuch fälschen! Fatal ist die Demokratieverdrossenheit; und dass so wenig getan wird, um das Vorurteil aus der Welt zu schaffen, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist, bei dem man sein Gewissen an der Garderobe abgeben muss.
Jörg Steinleitner: Können Sie sich erklären, weshalb das Bewusstsein für Werte in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahren abgenommen hat und nun wieder wächst?
Peter Hahne: Unsere Spaßgesellschaft hat in ihrer Oberflächlichkeit zu lange von einem falschen Toleranzbegriff gelebt. Jetzt erleidet man als bittere Bilanz, dass alles gleichgültig wird, wenn man alles für gleich gültig hält. Den wahren Wert der Werte erfährt man wohl erst durch ihren Verlust. Gerade junge Leute sind die banale Beliebigkeit leid und fragen nach dem, was unsere Gesellschaft jenseits von Konsum, Karriere und Kapital zusammenhält, was also wirklich wichtig ist. Nicht von ungefähr findet Papst Benedikt XVI. unter der Jugend Beifall, wenn er der “Diktatur des Relativismus” die fundamentalen Werte des Christentums entgegensetzt und versucht, Vernunft und Glauben in Balance zu bringen.
Jörg Steinleitner: Wenn Sie ein Zukunftsszenario zeichnen sollten – wie würde unsere Politik und Gesellschaft in 50 Jahren aussehen, sollte sich nichts an unserem Wertebewusstsein ändern?
Peter Hahne: Es wird sein wie auf der Titanic: Wir feiern ein Fest, das Orchester spielt – und die ganze Spaßgesellschaft versinkt auf ihrem Ego-Trip ohne Kompass und Kapitän im Rausch der Beliebigkeit in den Abgrund. So befürchtete es übrigens schon der Nobelpreisträger Werner Heisenberg in den 1970er Jahren prophetisch, deshalb mahnen alters-weise Politiker wie Helmut Schmidt Ethik und Führung an. Ich halte es notfalls mit Erich Kästner: „Es ist besser, beizeiten Dämme zu bauen, als darauf zu hoffen, daß die Flut Vernunft annimmt.“
Jörg Steinleitner: Welche Kur empfehlen Sie unserem Land und seinen Menschen?
Peter Hahne: Wir sollten von der Ich-AG, die wir auf unserem selbstverwirklichenden und selbstzerstörerischen Ego-Trip zu werden drohen, zu einer „GmbH“ werden, einer Gesellschaft mit begründeter Hoffnung. Ohne Hoffnung haben wir keine Zukunft, und Zukunft gibt es nicht ohne Herkunft. Wir brauchen eine radikale Umkehr zu den Wurzeln (lat. = radix), um weiterzukommen. Das muss weniger gelehrt als gelebt werden. Werte wollen nicht als Worte erfahren werden, sondern als Begegnung.
Jörg Steinleitner: Ihr Buch nimmt sehr stark Bezug auf die christlichen Werte. Weshalb?
Peter Hahne: Weil ich dieses Buch ja bewusst als Christ geschrieben habe und mich an das Deutschland des Grundgesetzes wende. Unsere Verfassung hat nun mal einen Vor-Satz, eine Präambel, von der alle weiteren Grundrechtsartikel unmittelbar abhängen: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen.“ Es sind also die christlich-jüdischen Wurzeln, die unsere Werte wie Menschenrechte, Menschenwürde und die Gleichheit vor dem Gesetz so wertvoll machen. Allein die Zehn Gebote reichten, um Betrug und Anspruchs-Egoismus, Generationenkonflikte und Mobbing zu bekämpfen.
Jörg Steinleitner: Welche anderen Werte halten Sie für bedeutsam?
Peter Hahne: Auch die finden wir beispielhaft und aktuell in der uralten Bibel: Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Demut, Mut und Gelassenheit, um nur einige zu nennen. Oder die preußischen Tugenden, die selbst SPD-Chef Kurt Beck wieder betont sehen will: Fleiß, Disziplin, Leistungsbereitschaft. Es sind die Werte, die unserer Gesellschaft Lebensqualität und unserer jungen Generation im Wettbewerb der Globalisierung Ausbildungschancen geben.
Jörg Steinleitner: Kann man heute als Politiker – und auch als Unternehmer – tatsächlich noch Erfolg haben, obwohl man sich vorgenommen hat, nach gewissen, zum Beispiel christlichen Werten zu handeln – gibt Ihnen diese Zuversicht?
Peter Hahne: Dafür stehen zahlreiche namhafte Unternehmerfamilien (z.B. Deichmann, Hipp, Loh) und der breite Mittelstand, bei denen der „ehrbare Kaufmann“ kein verstaubtes Relikt ist. Und dass ein klares christliches Bekenntnis der politischen Karriere alles andere als schadet, beweisen die beiden schwarz-roten Vogel-Brüder Bernhard und Hans-Jochen, um nur zwei zu nennen. Führungskräfte brauchen Kraft zum Führen, Ziele und Fundamente, sonst gehen sie im Wettbewerb unter. Manche Unternehmer sollten sich lieber Unterlasser nennen, weil sie nichts mehr unternehmen. Eine Ethik der Menschlichkeit wird zunehmend zum Erfolgsfaktor.
Jörg Steinleitner: Welcher Politiker kommt Ihrem Ideal noch am nächsten und weshalb?
Peter Hahne: In der Geschichte waren das sozialpolitisch engagierte Christen wie der Pietist und Volksbank-Gründer Friedrich-Wilhelm Raiffeisen und der Katholik Adolf Kolping. Beide haben in ihrer Zeit keine Schlagzeilen gemacht, aber Spuren in der Geschichte hinterlassen, die heute noch beispielhaft sind. Die Wertefrage ist übrigens längst keine Domäne der Konservativen mehr, sondern hat die Breite unserer Gesellschaft erreicht. Wir sehen das konkret an den „Sternstunden„ des Bundestages, wenn ohne Fraktionszwang und Machtpoker parteiübergreifend über ethische Grundfragen wie Sterbehilfe oder Spätabtreibung diskutiert wird.
Jörg Steinleitner: Was will uns der Spruch „Suchet der Stadt Bestes“ sagen?
Peter Hahne: Im biblischen Zitat des Propheten Jeremia heißt das konkret: „Betet für die Stadt, damit es Euch gut geht.„ Und das ist das Gegenteil von Inaktivität und Hände-in-den-Schoß-legen. Für wen ich bete, der ist mir nicht egal, der interessiert mich. Lateinisch „inter esse“, das heißt: dabei sein, sich einmischen, nicht abseits stehen. Wem der Himmel gewiss ist, dem kann die Erde nicht gleichgültig sein. Christliche Weltverantwortung ist das Gegenteil von frommer Weltflucht.
Jörg Steinleitner: Wie kann jeder Einzelne unter uns im Alltag „der Stadt Bestes suchen“ – haben Sie einen kleinen praktischen Tipp?
Peter Hahne: Verantwortung übernehmen, wo immer sie einem vor die Füße fällt: Das beginnt bei der konkreten Nachbarschaftshilfe, das kann die Schulsprecherin oder der Elternbeirat genauso sein wie die Kommunalpolitik oder der Kirchengemeinderat. Wir brauchen mehr Vorbilder und weniger Vorschriften. Dazu will mein Buch informieren, interessieren und motivieren.