Ein Junge, der sich nicht unterkriegen lässt
Marco Balzanos „Das Leben wartet nicht“ ist eine kleine große Geschichte – und wenn man sie denn unbedingt in eine Schublade stecken möchte: das männliche Äquivalent zu Elena Ferrantes „Meine geniale Freundin“-Romanen. Denn ihr Autor ist ein Mann und dieser Marco Balzano erzählt das Schicksal eines Jungen, der sich vom Sizilien der Fünfziger-Jahre aus ins Leben aufmacht.
Ninetto wächst in bitterer Armut auf. Verprügelt zu werden und hungrig zu sein sind die Selbstverständlichkeiten, die seinen Alltag prägen. Immerhin hat er eine Oma Agata, die ihn direkt nach seiner Geburt zwei Monate lang zwischen ihre riesigen warmen Brüste steckte – „besser als jeder Brutkasten war meine Oma Agata“ – und einen starken Lehrer, der ihm Mut fürs Leben schenkt.
Marco Balzano ist selbst ein Sohn, dessen süditalienische Eltern vor der Armut in den Norden flohen
Trotzdem lässt sich nicht vermeiden, dass Ninetto im zarten Alter von fünfzehn Jahren in einem Zug nach Norden landen wird. „In Mailand kannst du dir eine Zukunft aufbauen. Als Maurer, Fabrikarbeiter, Handwerker und wer weiß alles“, findet Ninettos Vater und stößt das Kind recht herzlos aus dem unwirtlichen Zuhause.
Es sprießt noch kein Bart an seinem Kinn, aber der Teenager schlägt sich durch. Erst als Laufbursche, bald schon als Fabrikarbeiter, was er als Glück empfindet. Immer wieder nützt man ihn aus oder haut ihn übers Ohr, aber Ninetto lässt sich nicht unterkriegen. Und eines Tages erblickt er das Mädchen Maddalena. „Wenn ich ehrlich sein soll, war es vor allem ihr Busen, der mich reizte.“ Ab jetzt streift er tagelang durch die Umgebung der Dosenfabrik, in der sie zu arbeiten scheint. „Die Frauen, die dort malochen waren viel älter als ich, und die Kalabresen sagten, es gehöre sich nicht, sich unter denen umzuschauen, auch wenn sie einem in meinem Alter natürlich das Blut zum Kochen bringen würden.“ Ninetto nimmt sich vor, auf die richtige Gelegenheit zu warten, um Maddalena kennenzulernen. Ob es ihm gelingt?
„Das Leben wartet nicht“ ist ein stiller Roman voller starker Bilder, Gerüche und feiner Beobachtungen
Marco Balzano erzählt dies alles in einem sympathisch melancholischen Ton. Selbst die euphorischen Momente, die es in diesem Roman durchaus gibt, geraten still und gedämpft. Aber es ist ja auch ein hartes Schicksal, dem sich der Gewinner des Permio Campiello 2015 widmet. Zudem ist sein Ich-Erzähler, während er auf sein Leben zurückblickt, an einem grausamen Ort eingesperrt: Ninetto sitzt im Gefängnis. Als er freikommt, ist die Welt eine andere, aber er scheint noch immer zu den Verlierern zu zählen. Die allerdings kommen heute von woanders her: aus China und Nordafrika. Sie sind Flüchtlinge, wie er einmal einer war. Was die Aktualität dieser lesenswerten Geschichte nur unterstreicht.