Unglücksglück & Das geschundene Tier

ISBN 978-3-455-30519-7

€ 6,99 UVP

1 CD, 62 Min

Martin Walser anlässlich seines 80. Geburtstags am 24. März 2007 über den Tod, das Glück, Rap und sein Hörbuch „Unglücksglück und Das geschundene Tier“.

Martin Walser im Gespräch anlässlich seines 80. Geburtstags am 24. März 2007

Martin Walser

Herr Walser, genau vor einer Woche haben Sie Ihr neues Hörbuch “Unglücksglück und Das geschundene Tier” in einem Hamburger Studio aufgenommen. Nachdem die Sprachaufnahmen im Kasten waren, haben Sie nach einem Klavier verlangt. Wie kam es dazu?

Martin Walser: Der zweite Teil des Hörbuchs sind diese 39 Balladen von “Das geschundene Tier”. Als ich zu Hause die Aufnahme vorbereitet habe, ist es mir so vorgekommen, dass von einer Ballade zur anderen eine schwer nachempfindbare Pause entstehen könnte. Durch die Töne wollte ich sie verbinden und trennen gleichzeitig. So habe ich daheim ein bisschen am Flügel herumprobiert, mit welchen Tönen das zu machen ist. Und ich habe vorausgesetzt, dass im Studio ein Klavier sein würde, denn die letzte Aufnahme war in einem NDR-Studio und da stand ein wunderbarer Flügel. Jetzt waren wir aber in einem anderen Quartier. Dann hat aber diese wunderbare Tonmeisterin innerhalb einer halben Stunde ein Klavier hergeschafft. Und dann habe ich halt diese paar Töne draufgemacht und die Tonmeisterin hat sie dann entsprechend präpariert.

Es gibt nicht so viele Schriftsteller, denen bewusst ist, dass das Hörbuch ein eigenes Medium ist und nicht nur ein vorgelesenes Buch.

Martin Walser: Ja, wissen Sie, das war dieses Mal auch etwas anderes, als wenn ich einen Roman lese. Wenn der Autor seinen Roman liest, nimmt der Text eine „ursprüngliche Form“ an, weil der Autor das ja in der Stimme so drin hat, wie er es geschrieben hat, und es entsteht dann allmählich, weil er ja ziemlich lange liest, eine Atmosphäre. Eine Stimmung. Die ist unverfehlbar, die wird bei jedem Autor entstehen. Ich weiß nicht, ob sie bei jedem Schauspieler gleichermaßen entsteht. Da entsteht vielleicht ein Kunstwerk, aber beim Autor, das ist meine Meinung, entsteht noch etwas mehr. – Gut, und jetzt waren das aber Gedichte. Und da habe ich gemerkt: Das kann nicht nur vorgelesen werden, denn Gedichte verlangen einen anderen Ausdruck. Es wird vorgetragen werden müssen. Deshalb habe ich es dann auch vorgetragen und nicht bloß vorgelesen. Ich habe mich also diesen Sprachstimmungen überlassen. So ein Hörbuch muss insgesamt nicht bloß den Text bieten, sondern auch die Stimmung dessen, der das gemacht hat. Auch muss eine Art Conférence dazugemacht werden: Wann der jeweilige Text geschrieben worden war, manchmal auch unter welchen Umständen und so weiter. Das ist eine ganz andere Art der Produktion als bei einem Roman.

Dass Sie das so wissen und spüren – hängt das auch damit zusammen, dass Sie ganz früher einmal Radio gemacht haben?

Martin Walser: Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht sagen. Ich will auch nichts dazuerfinden. Aber ich weiß, dass, wenn ich jetzt viele Gedichte nacheinander lese, die zwar zeitlich so geordnet sind, dass sie auch eine Art Folge oder Erzählung abgeben, dass ich eine andere Stimmung ausdrücken muss, als wenn ich mich dem Roman überlasse. Der Roman erzählt sich . Diese Gedichte, die wollen aber doch jedes für sich eine eigene Lautqualität. Die sind ja vorgelesen oder vorgetragen viel mehr sie selber, als wenn sie bloß auf dem Papier stehen. – Wenn ich jetzt ein bisschen übertreibe: Die schreien ja geradezu danach, vorgetragen zu werden. Und das habe ich eben deutlich gemerkt, als ich sie zu Hause vorbereitet habe. Auch, dass es eine unmittelbarere Freude sein kann, solche Gedichte vorzulesen als eben Prosa. Da gibt es gar keinen Zweifel, und in anderen Ländern ist das ja noch ein bisschen mehr Brauch als bei uns, dass man Gedichte vorträgt. Ich werde jetzt auch zweimal aus diesem “Geschundenen Tier” vorlesen. Aber ich kann mir noch nicht vorstellen, wie das geht gegenüber einem im Saal sitzenden Publikum.

Sie müssen eben auch einen Flügel auf der Bühne stehen haben und Klavier spielen.

Martin Walser: (lacht) Wissen Sie, der Unterschied ist, dass die Prosalesung bei uns sozusagen akzeptiert ist. Ich war einmal auf einem Literaturfestival in Toronto. Da waren aus allen Ländern Autoren da und da haben zwei – eine georgische und eine russische Autorin, glaube ich – die haben sich neben das Rednerpult gestellt, ohne Manuskript, ohne Buch und haben ihre ziemlich langen Gedichte auswendig vorgetragen. Und keiner hat die Sprache verstanden, aber wir haben alle verstanden, worum es geht. Das ist bei uns nicht mehr so drin. Wir sind also ein bisschen eine stumme Nation. Aber im Hörbuch kann man das noch einmal herauskommen lassen.

Was bereitet Ihnen mehr Freude: Das Bücher Schreiben, das Vorlesen oder gar das Komponieren?

Martin Walser: Na ja, komponieren – das ist übertrieben. Ich habe vier Töne ansteigen lassen und sich wieder senken lassen, jeweils gegliedert in Halbtöne. Das ist ein Tonelement und das macht halt Spaß so was. Und man darf das auch nicht vergleichen – das Schreiben oder Vortragen oder Vorlesen sind einander zu sehr verwandt als dass man da das eine dem anderen vorziehen könnte. Ich schreibe nach dem Gehör und nicht nach den optischen Vorstellungen. Ich beschreibe keine optischen Vorstellungen, sondern ich höre Sätze. Und wenn ich sie dann lese, dann kommen sie zu der Form, in der sie auch entstanden sind.

Das heißt, Sie lesen sich Ihre Texte auch selber laut vor, während des Schreibens?

Martin Walser: Nein, das nicht. Ich höre Sätze nicht akustisch, das ist wie bei einem Selbstgespräch: Das findet bei mir nicht in Bildern statt, sondern in Sätzen und diese Sätze haben eine rhythmische, hauptsächlich eine rhythmische Qualität und die schreibe ich dann nach – wenn ich einmal drin bin im Schreiben. Am Anfang kann das ja oft sehr mühselig sein, aber wenn ich mal drin bin, dann werden sie eben – das ist vielleicht paradox – dann werden sie zu akustischen, lautlosen Gebilden.

Ihr neues Hörbuch erscheint ziemlich genau zu Ihrem 80. Geburtstag am 24. März. Es dürfte Ihr rund 30. Werk sein. Freuen Sie sich darüber noch wie über ein schönes Geburtstagsgeschenk?

Martin Walser: Na ja, das hat mit dem Geburtstag … gut, ich gebe zu, dass ich vielleicht zum ersten Mal etwas terminiert habe. Wenn man schon weiß, was in unserem Klima und unserer Kultur mit solchen Daten gemacht wird – und da ich etwa sei acht Jahren diese Texte “Das geschundene Tier” schreibe – da habe ich mir irgendwann letzten Herbst gedacht: Ja, das leg ich zum Geburtstag vor und da können die Leute sehen, wie es einem zumute ist – eben wie einem geschundenen Tier.

Ich habe auf Ihrem neuen Hörbuch auch das Mundart-Gedicht “Zletzschd” [Zuletzt] gefunden, das handelt von einer Sprache, die tief in uns wurzelt und in der wir uns zu Hause fühlen, zu der wir hinabtauchen müssen, die wir aber niemandem weitergeben können. Wie sprechen Sie im Kreise Ihrer Familie? Konnten Sie an Ihre vier Töchter das Alemannische weitergeben?

Martin Walser: Eben, wie es in diesem Gedicht heißt: Ich habe es von diesem und von jenem und ich weiß noch genau, von wem ich es hab’, aber ich kann’s keinem mehr geben. Also meine Mutter konnte es mir noch geben, das Alemannisch war die Sprache meiner Mutter und so ist Alemannisch meine Muttersprache. Meine Mutter hat nie einen perfekten hochdeutschen Satz gesagt. Und wir sprechen halt so ein Mischmasch, so einen Gegendmischmasch, wie er jetzt üblich ist. Wir sprechen nicht Hochdeutsch. Keinesfalls. Aber „zletzschd“, das würden wir schon noch auch hier sagen. Doch den vollen alemannischen Klang, denn hätte in der Familie ja auch nur ich. Die Kinder sind ja schon in württembergische oder in bayerische Schulen gegangen.

Sie sagen das mit einem Bedauern?

Martin Walser: Natürlich, da geht schon was verloren. Aber das ist wie mit allem. Man mag es bedauern oder nicht, aber es geht ja andauernd etwas verloren. Das heißt nicht, dass die Welt ärmer wird, weil es entsteht ja auch andauernd was. Es entsteht Poetry Slam, Mischsprachen, Rap oder weiß der Teufel was, es wird dauernd lebendig Sprache produziert. Das kriegt man mit und das ist doch gut! Und dann darf man selber sich mit seinem Mitgekriegten, darf man irgendwann sich als Verlust verbuchen. Das ist nicht so schlimm.

Mindestens zwei Texte auf Ihrem Hörbuch – “Biographie” und “Das geschundene Tier” – befassen sich mit der Zunge. Warum ist Ihnen die Zunge so wichtig?

Martin Walser: Die Zunge ist – na, ich will jetzt nicht übertreiben – ich kann’s auch nicht ganz ausschließlich sagen – sie ist auf jeden Fall: Entweder der geistigste oder der zweitgeistigste Körperteil. Die Zunge ist ja das Empfindlichste. Sie wirkt wie reine Materie und dabei ist sie ungeheuer nervös. Man macht alles mit ihr. Außerdem hat sie ja noch eine metaphorische Bedeutung.

Ein kleines munteres Gedicht befasst sich mit einem anderen Körperteil – Großmutters Nase, die weiterzugeben das lyrische Ich „bestimmt ist“. Ein anderes handelt von einer Mutter, wieder eines von einem Bruder. Welchen Stellenwert hat die Familie in Ihrem Leben – auch unter dem Aspekt, dass Sie sehr früh bereits Ihren Vater verloren haben? Bitte verzeihen Sie mir diese private Frage, ich frage dies auch, weil ich selbst meinen Vater sehr früh verlor.

Martin Walser: Deswegen bleibt doch unsereinem alles fremd, was man rundum auch in kultureller Überbetonung mit Vater-Sohn-Konflikt illustriert sieht! – Vatermord und weiß der Teufel was es da alles gibt. Ich weiß nicht, was ich für ein Verhältnis zu meinem Vater gehabt hätte, wenn er länger gelebt hätte. Aber so habe ich ein reines Liebes- und Verehrungs- und Anbetungsverhältnis. Und überhaupt nicht etwas Negatives. Und damit ist man ja schon ziemlich unnormal, weil als Sohn sollte man …, das kennen Sie ja, die ganzen Kulturgerüchte – von Ödipus bis sonst was … Und es kann ja gar nicht ausbleiben, wenn der Vater weg ist, dass dann die Familie, ohne dass das ein Kind weiß – aber es kriegt es mit –, dass man sich ein bisschen enger zusammen schließt als in einer glücklich, frei und unbeschädigt dahinlebenden Familie. Die Mutter passt mehr auf die Kinder und die Kinder passen mehr auf die Mutter auf, als wenn der Vater noch da wäre. Und dieses Gedicht an den Bruder, das ist ja an den mit 19 gefallenen Bruder. Da habe ich halt auch mal diese Zeilen gemacht.

Hat sich Ihre Einstellung zur Familie im Laufe Ihres Lebens verändert?

Martin Walser: Wissen Sie, das gilt ja nicht nur für die Familie, aber für die Familie gilt das ganz besonders: Dass man die Wichtigkeit eines Lebensumstands nicht misst und benennt und formuliert. Das merkt man halt im Lauf der Zeit, in wie viel Fragen und Entscheidungen man sich ganz von selber, unbewusst danach gerichtet hat, was die Familie dazu sagen würde. Die Mutter in dem Fall, die hat natürlich einen unendlichen Einfluss gehabt auf mich. Es war für mich sehr schwer zu schreiben und zu wissen, dass sie das nicht unbedingt billigen wird oder billigen kann. Ich bin erst – sage ich jetzt mal – rehabilitiert worden, als … Gut, mein erstes Buch, das waren so literarische Geschichten, die hat sie schlechterdings gar nicht lesen können. Ich weiß nicht, ob sie die je in die Hand genommen hat. Da hat sie auch nie etwas gesagt. Aber dann, der erste Roman “Ehen in Philippsburg”, das war mir schon klar, dass ich … Ich hätte ihr das nie in die Hand gegeben. Aber dann hat sie es gelesen und hat gesagt: Sie hat das nicht fertig lesen können. Ich glaub’, sie hat sogar die Seite gesagt: Bis dahin hat sie es gelesen. Gut, dann war das schmerzlich, aber sie hat weiter nichts dazu gesagt. Aber dann kam einmal – wir hatten ja damals eine Gaststätte in Wasserburg; da kam ein Pfarrer aus Regensburg und der hat das Haus besucht und mit meiner Mutter gesprochen und ihr gesagt, dass sie einen akzeptablen Sohn habe und er habe dieses Buch sehr gerne gelesen. Von da an war ich gewissermaßen akzeptiert.

Was sagen Sie zur aktuellen familienpolitischen Diskussion – insbesondere zur Tendenz, den Eltern durch Ganztagsbetreuung die Verantwortung über ihre Kinder zu entziehen, damit sie selbst arbeiten können?

Martin Walser: Da mische ich mich überhaupt nicht ein, nicht einmal in Gedanken. Weil das für mich alles Fremdsprachen sind. Sehen Sie, meine Mutter hat auch den ganzen Tag gearbeitet. Die musste das Geschäft führen und wir Kinder mussten uns selber behelfen. Wir haben uns in der Umgebung, in der Nachbarschaft Ersatzfamilien ganz von selber gesucht. Vis-à-vis von uns hat ein Schuhmacher Gierer gewohnt, ein ziemlich alter Schuhmacher, ein wunderbarer Mann und mit einer sehr liebenswürdigen Frau, wenn sie auch nicht so wunderbar war wie er, und ich nannte die beiden „Gierer-Papa“ und „Gierer-Mama“. Und da bin ich immer hin, bei denen habe ich gegessen, weil meine Mutter keine Zeit hatte. Aber das war nie ein Schmerz, dass sie keine Zeit hatte, ich bin ja dann auch wieder zurück in die Familie … Auf jeden Fall – ich kann da nicht mitreden. In einem Dorf ist das eben anders, wahrscheinlich, als in einer Stadt. Ich mische mich da nicht einmal in Gedanken hinein.

Neben dem Wort „Zunge“ ist mir in den Gedichten Ihres neuen Hörbuchs auch das drastische Wort „kotzen“ aufgefallen – es scheint aus der sonstigen Wortwahl auszubrechen. In “Das Geschundene Tier” rutscht einer im Gekotzten aus. In “Prophezeiung” kotzt ein Kuckuck ein Requiem aufs Abendbrot.

Martin Walser: Ja, das sind aber zwei sehr verschiedene.

Zu dem zweiten: Drücken Sie damit auch Ihre eigene Verachtung des Todes aus?

Martin Walser: Nein, das ist keine Verachtung. Ich sage nur: Tod, das ist ein Wort, mit dem kann man machen, was man will, man kann ihm nie entsprechen. Es gibt keinen, diesem Wort entsprechenden Umgang. Da kann jeder sagen, was er will – es stimmt alles und es stimmt alles nicht, was man über den Tod sagt. Und dann kommt da so ein harmloser “Rutscher” hinein.

Und was sagen Sie zum Tod? Wie ist Ihr Verhältnis dazu?

Martin Walser: Eben: Man kann keines haben. Es gibt ihn nicht. Es gibt nur das Sterben. Es gibt den Tod nicht. Das ist eine Metapher …, natürlich, weil es das Gestorbensein gibt, gehört das Wort „Tod“ zu diesen riesengroßen Großwörtern wie Gott, wie Liebe oder wie Unsterblichkeit oder wie Ewigkeit, da haben wir Wörter für etwas, was es eigentlich nicht gibt und wo jeder, der das Wort gebraucht, immer dazu sagen muss, was er damit meint. Wie Sie mich jetzt auch gefragt haben: Wie haben Sie’s mit dem Tod? Es gibt eine genauere Umgangsart mit dem Wort „sterben“. Das ist ja ein Vorgang, mit dem man eher etwas anfangen kann.

Und wie gehen Sie damit um? Ist das Leben zu kurz eigentlich?

Martin Walser: (lacht) Ja, ja, also ich sage immer: Das Leben ist zu kurz, als dass man schlechte Weine trinken dürfte. Wann immer das Leben erträglich ist, darf man es als zu kurz empfinden.

In Ihrem Kalendervers zum 14. September thematisieren Sie den Schmerz über den Tod: „Benommen von der Lebenswucht, die sich neigt / und niederdonnernd leise wird und schweigt“ lauten da zwei Verszeilen. Da ist schon auch ein Schmerz da, oder?

Martin Walser: Ja natürlich, das wäre ja lächerlich, so zu tun, als wäre das keiner. Nur ist das …, dafür gibt es Sprache und darüber, abgehoben davon, glaube ich nicht, dass man sinnvoll sprechen kann. Man kann nur dann und wann ausdrücken, wie es einem zumute ist.

Zu einem fröhlicheren Thema: Romy Schneider und Liz Taylor immunisieren das Ich in Ihrem Gedicht Zauber und Gegenzauber vollkommen gegen den „Gestütsnaturalismus Brigitte Bardots“. Beschäftigen Sie „die heutigen Romy Schneiders und Brigitte Bardots“ denn auch noch? Oder wird das „Gestütsnaturalistische“ ab einer gewissen Reife uninteressant?

Martin Walser: Ich glaube, es ist noch etwas anderes. Das stelle ich deutlich fest. Schauspieler, ich hoffe es beschränkt sich auf Schauspieler, bin aber nicht ganz sicher, also: Schauspieler zu solchen Größen werden zu lassen, dass man sie mühelos im Kopf hat und dass sie im inneren Mobiliar einfach lebendig, bunt vorhanden sind – dass das entsteht, dazu muss man jung sein. Verstehen Sie, James Cagney zum Beispiel – ich weiß nicht, ob es heute noch einen James Cagney gibt. Aber wenn es heute noch einen gäbe, würde er für mich vielleicht nicht mehr … Es gibt heute absolut keinen James Cagney mehr! Das ist für mich der größte Schauspieler gewesen. Und es gibt auch keinen Hans Moser mehr. Und jetzt, bitte schön, weiß ich nicht, liegt das an mir oder sind diese Ränge objektiv nicht mehr besetzt? Da mag ich auch kein Urteil abgeben, weil das steht mir nicht zu – vielleicht liegt das ja an mir. Und mit Romy Schneider und Liz Taylor ist es genauso – da konnte ich allerdings diesen erkenntniskritischen Beitrag versuchen: Dass das Künstliche an den zweien mich gegen den Naturalismus der Bardot immunisiert, das heißt einfach: Ich ziehe die anderen zwei vor.

Ein Gedicht widmen Sie auch einer „hiesigen“ Tochter. Sie möge doch nicht so in der Gegend herumliegen, sonst kommt ein Wanderer, der sie entkleidet, blind macht und ausweidet. Warnt da der Vater von vier Töchtern oder ist das zu gegenständlich gedacht?

Martin Walser: Nein, nein, absolut, das ist an meine Töchter, oder über sie hinweg gesprochen. Ich weiß aber nicht, ob je eine Tochter das gelesen hat.

In “Das Geschundene Tier” wird eine Frau zur Folterin. Überhaupt handelt das Gedicht von der Folter, dem Schmerz und der Religion. Wie konkret dürfen wir das, was Sie da dichten, mit den Folter-Skandalen der jüngsten Vergangenheit verbinden?

Martin Walser: Nein, nein, nein, null, null, null! Ich kann ja das Wort „Folter“ nicht aufgeben, bloß weil wir solche blöden Skandale da und dort haben, nein! Folter, das hat es lange genug gegeben, so dass ich das für das lyrisch nicht brauchbare Wort „plagen“ oder „quälen“ genommen habe. – „ Quälen“, „plagen“, „foltern“ – da ist lyrisch nur „foltern“ brauchbar für mich. „Plagen“ ist trivial und „quälen“ ist Prosa. „Foltern“ ist in einem Gedicht brauchbar, glaube ich. Und wenn ich sage: Frauen foltern anders oder so ähnlich, dann heißt das ja schon …, man könnte es auch einfach in Prosa übersetzen – „Schmerz zufügen“ – ohne, dass man etwas dagegen machen kann.

„Der Schmerz verdient ein Denkmal aus Speiseeis“ formulieren Sie in “Das Geschundene Tier” …

Martin Walser: Ja, das ist sozusagen Hohn – innerhalb dieser Passage sind lauter solche Sachen.

Und dann heißt es aber an anderer Stelle: „Heilig ist nur der Schmerz.“

Martin Walser: Genau, ja, da ist es seriös. Das erste ist, glaube ich, in einer Aufzählung, wo alles, was da an die Wand geworfen wird, oder ironisch gemacht wird – „Zungenkuss, Kapitalverbrechen“ oder so ähnlich, glaube ich. Während das andere – „Heilig ist nur der Schmerz“ – halte ich für seriös.

Wie sollen wir denn mit dem Schmerz dann umgehen?

Martin Walser: Singen.

Also ihm kein Denkmal setzen, nicht einmal eines aus Speiseeis?

Martin Walser: Da müssen Sie jetzt die ganzen Zeilen, die dazu gehören, ich habe es jetzt nicht im Kopf, aber das ist die Stimmung – Sie haben den Text auch nicht gerade da?

Doch, ich könnte die Stelle finden. Einen Moment bitte. „Alles fälschen heißt, alles verbessern. Schreie / eignen sich für Gelächter. Schmerz verdient / ein Denkmal aus Speiseeis. Zungenkuss / heißt Kapitalverbrechen.“

Martin Walser: Ja, genau: Wem nur die Wahrheit …

… einfällt, der schweige. Und schämen soll er sich auch.

Martin Walser: Also gut, das ist doch ein Gegenton, wie soll ich sagen, das ist ein Protest, gegen alles. Da könnte man auch sagen: So ist es leider. Alles fälschen heißt alles verbessern. Schmerz, nur ein Denkmal aus Speiseeis. Und wem nur die Wahrheit einfällt, verstehst du …, das ist Gegengedicht!

Und das andere – „heilig ist nur der Schmerz“?

Martin Walser: Ja gut, das ist direkt, ungebrochen.

Das ist eine schlimme Aussage.

Martin Walser: Ja, das natürlich auch, weil der Schmerz viel höher ist als das Interesse.

Ein dem Schmerz verwandtes Gefühl ist die Angst. Wie gehen Sie mit Angst um?

Martin Walser: Na ja, jetzt habe ich ja gerade erst ein dickeres Buch Angstblüte geschrieben. Das ist ein Buch, ich sage jetzt mal eiskalt „über die Produktivität“ der Angst. So habe ich meine Figur … – natürlich übertreibe ich da – aber aus gutem Grund sage ich das: Angst darf mich nicht lähmen, sondern Angst muss mich beleben. Ich muss blühen vor Angst. Diese Figur hat den Spruch selber aus ihrer Erfahrung als Bergwanderer. Der sagt immer: „Bergauf beschleunigen. Wenn’s schwer geht, dann schneller machen.“ Also: Wenn du Angst merkst, dann musst du noch mehr tun als vorher. So wie diese Bäume blühen, zum letzten Mal, wenn sie Angst haben, dass sie das nächste Jahr sterben. Daher kommt das Wort „Angstblüte“. Und das, könnte ich mal kurz gefasst sagen, ist mein Verhältnis dazu.

Vielleicht gelingt uns nach diesen ernsten Themen noch ein heiterer Schluss: In der Anleitung zum Glück preist uns das lyrische Ich das „Ausräumen des Mäusemists“ als erheiternde Tätigkeit. Flunkert uns das lyrische Ich da nicht gewaltig etwas vor? Und: Was ist für Sie persönlich das größte Glück?

Martin Walser: Ich bleib’ bei der ersten Hälfte: Das ist ganz klar, diese Tätigkeiten, die da beschrieben sind – Gedichte machen und das Waschen von Frauenhaaren oder Ausräumen des Mäusemists aus der Speisekammer, das ist sozusagen eine alte Erinnerung. Wenn man mal in einem älteren Haus lange gewohnt hat, wo es so eine Speisekammer gab, als Zweitkühlschrank oder so, dann weiß man, da gab es auch gelegentlich Mäusemist. Und daran zu denken, gut, das habe ich halt zu den schönen Tätigkeiten genommen. Und Glück, das ist für mich Unglücksglück. Ganz klar. Es gibt kein Glück ohne Unglück und Glück kriegt seine enorme Qualität nur, weil es das Unglück gibt.

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Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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