Eine Frau und zwei Kinder: eingesperrt. Sie müssen tun, was ihr Peiniger verlangt. Tom Spiess und Friederich Oetker über ihre Netflix-Serie „Liebes Kind“.

Die Produzenten der Netflix-Verfilmung von Romy Hausmanns Thriller „Liebes Kind“ im Interview

Liebes Kind – exklusiv und weltweit ab 7. September auf Netflix!

Herr Spieß, Herr Oetker, Sie haben aus Romy Hausmanns Thriller „Liebes Kind“ eine Netflix-Serie gemacht. Was fasziniert Sie an der Romanvorlage?

Friederich Oetker (FOE): Fasziniert hat mich zunächst, dass ich den Roman auf Seite 187 das erste Mal aus der Hand gelegt habe, um einen Schluck Wasser zu trinken. Die Amerikaner nennen eine solche Lektüre einen „page turner“. Romy Hausmanns Roman besticht durch seine Grundspannung, Unvorhersehbarkeit und Figurenzeichnung. Für jeden Charakter entwickelt man Empathie; man will wissen, was mit ihnen geschehen wird. Es ist ein Cliffhanger über 432 Seiten.

Tom Spieß (TSP): Bereits bei ihrem Debüt beherrscht Romy Hausmann das Genre Psycho-Thriller meisterhaft. Sie hat aus einer nicht unbekannten dramatischen Grundsituation eine ungewöhnliche, packende Story entwickelt. Die Motive und vor allem die unterschiedlichen Perspektiven der Figuren sind für eine Serie unbedingt geeignet.

Die Geschichte erzählt von einer Frau, die mit den beiden Kindern Hannah und Jonathan völlig isoliert in einem hochgesicherten Haus lebt. Sie sind eingesperrt und müssen alles tun, was ihr Peiniger verlangt. Würde es sich um einen gewöhnlichen Plot handeln, dann entstünde die Spannung daraus, dass Lena versucht zu fliehen. Doch bei Romy Hausmann und Ihrer Serie ist das anders …

FOE: Der Roman und die Serie beginnen, wo andere Geschichten enden; mit der Flucht aus ihrem Gefängnis und vor dem Peiniger. Der Roman ist jedoch auf eine Weise montiert, welche die Zeit in den Fängen des Täters allgegenwärtig erscheinen lässt. Unsere Protagonistin kann ihrem Gefängnis entkommen, ihrer Gefangenschaft jedoch nicht.

TSP: Weil Romy Hausmann „Liebes Kind“ dramaturgisch vollkommen anders als z.B. „Room“ oder „3096 Tage“ organisiert hat, steht auch bei unserer Serie am Anfang die Erlösung, die Befreiung. Die Story formuliert ständige Vermutungen, Figuren sind unzuverlässig und dennoch bleiben die Leser*innen/Zuschauer*innen jeden Moment in der Emotion gefesselt.

Wieso entsteht, obwohl das vermeintlich Packendste – die Flucht – eigentlich schon geschehen ist, dennoch Hochspannung?

FOE: Zum einen gilt es herauszufinden, was im Verlies geschehen ist. Wie muss man sich ein Familienleben in Gefangenschaft vorstellen? Wie wurde der Täter zum Täter? Wie wurde unsere Protagonistin als Opfer erwählt? Wie gelingt ihr schließlich die Flucht? Was erwartet sie in der freien Welt? Und ich denke, ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass sie das Grauen und die Bedrohung mit dem Entkommen noch lange nicht hinter sich gelassen hat

TSP: Dazu kommt, dass die Geschichte nicht retrospektiv, sondern mit großem Zug nach vorne erzählt wird. Polizei und Angehörige stehen gerade nach der Flucht vor einem Rätsel und müssen lernen, dass sie ganz am Anfang sind.

Welche Rolle spielen die Eltern, die Familie in dem ganzen Gefüge?

FOE: Der ganze Roman funktioniert über die familienartigen Beziehungen der Figuren zueinander, ob biologisch oder selbstgewählt. Die Eltern unseres verschwundenen Mädchens geben ihre Tochter nie verloren. Ihre Weigerung, sie loszulassen, ist eine der Triebfedern der Geschichte. Das „Nichtwahrhabenwollen“ kann eine enorme Kraft besitzen.

TSP: Die tiefe Trauer, nachdem die eigene Tochter wie vom Erdboden verschwunden ist und das große Bedürfnis nach Gewissheit lässt keine Familie, keine Beziehung unbeschädigt. Der unterschiedliche Umgang aller Figuren mit der Situation führt zu Konflikten und Misstrauen.

Sie haben sich für Isabel Kleefeld als Regisseurin entschieden. Warum?

FOE: Isabel verbindet die Fähigkeit unterhaltsam und spannend zu erzählen mit einem enormen Maß an Empathie für ihre Figuren. Sie opfert die Nachvollziehbarkeit ihrer Charaktere nicht für Effekthascherei; dadurch begleitet man diese bis zum Ende. Sie hat viele ungesehene Momente geschaffen in dieser Serie.

TSP: Isabel Kleefeld und Julian Pörksen haben gemeinsam inszeniert; Isabel die ersten drei, Julian die letzten drei Folgen. Über die gemeinsame Drehbucharbeit und vor allem eine konzentrierte Vorbereitung des Drehs konnten sich beide bereits früh über Fragen zur Inszenierung abstimmen.

Romy Hausmann hat einen Thriller geschrieben. Wieso haben Sie daraus sechs Teile gemacht?

FOE: Kurzum: weil Romy es uns möglich gemacht hat. Sie hat eine Tapisserie geschaffen, die jede Figur so vielschichtig erzählt, dass eine größere, detailreiche Erzählform nahelag. Sie hat mehrere dramaturgische Stränge nebeneinander aufgebaut, die sich schlussendlich verweben. Es braucht jede Figur und jeden Moment, damit dieses Rezept am Ende aufgeht.

TSP: „Liebes Kind“ ist ein charaktergetriebenes Figurendrama, jeder hat seine Gründe bzw. Abgründe. Die familiären und persönlichen Beziehungen der Figuren bieten ein großes Spektrum an Gefühlen, den Raum und die entsprechenden erzählerischen Möglichkeiten, eine Serie dramaturgisch zu organisieren.

Wird so eine Literaturverfilmung in enger Zusammenarbeit mit der Autorin des Romans umgesetzt oder hatten Isabel Kleefeld und Julian Pörksen freie Hand?

FOE: Die Autorin hat Isabel Kleefeld und Julian Pörksen vertrauensvoll gewähren lassen, im stillen Selbstbewusstsein, wie gut ihre Prosa als Serie funktionieren könnte. Isabel und Julian haben den Roman dann auf eine so inspirierte Weise adaptiert, dass Romy hellauf begeistert ist.

TSP: Wir haben Romy Hausmann früh und gemeinsam mit Isabel kennengelernt und ihr unsere Idee zur Verfilmung vorgestellt. Das Gespräch über Figuren, Fragen zum Plot und darüber hinaus Romys Gefühl, dass wir den Roman wirklich „verstanden“ haben, waren für das Vertrauen in uns wichtig, denke ich.

Inwieweit mischen Sie als Produzenten bei Drehbuch, Dreharbeiten und Postproduction mit?

FOE: Tom und ich sind natürlich in alle Vorgänge involviert. Wir geben dramaturgischen und organisatorischen Input in der Bucharbeit. Der reibungslose Ablauf des Drehs obliegt ohnehin dem Produzenten im Tandem mit der Regie. Und in der Postproduktion kann man dann genießen, zumindest in diesem Fall. Auch nach dutzendfachem Schauen stellt sich bei mir kein Völlegefühl ein. Ich freue mich bereits auf den 7. September, um die Serie erneut zu schauen.

TSP: Als Produzenten sind wir von der ersten Idee bis zum Release am 7. September verantwortlich und in alle Arbeitsschritte involviert. Eine komplexe Bucharbeit und Drehvorbereitung, 75 Drehtage und 270 Minuten Film zu finanzieren, zu organisieren und zu begleiten, das braucht intensive und unbedingte Aufmerksamkeit. Diese Intensität lässt bei einem detaillierten Timing für sechs Episoden auch während der Postproduktion in zwei Schneideräumen nicht nach; das ist ambitioniert und kann alle Beteiligten fordern. Sich in die Geschichte und Figuren zu vertiefen, ist aber gleichzeitig ein faszinierender Flow, der eine große Befriedigung sein kann.

Ein Roman und ein Film funktionieren unterschiedlich. An welchen Stellen mussten Sie den Ursprungstext etwas großzügiger auslegen, um dennoch ein fesselndes Ergebnis zu bekommen?

FOE: Isabel und Julian haben beispielsweise eine weitere Figur, eine Ermittlerin, eingeführt, die uns noch näher ans Geschehen bringt und ein paar narrative Fäden verbindet. Zudem muss man einige introspektive Schilderungen ins Szenische wandeln, damit der Zuschauer diese nachvollziehen kann.

TSP: Schon für den szenischen Aufbau einer 45-minütigen Episode, Spannungsbögen und Cliffhanger braucht es Umstellungen, Änderungen und vielleicht Ergänzungen des Romans. Die Gewichtung der Figuren kann sich etwas verschieben – ohne die Geschichte oder Figuren zu entstellen, das war uns wichtig.

Bitte sagen Sie noch etwas zu Ihren Hauptdarstellern: Was begeistert Sie an Ihnen?

FOE: Fernab jedweder Kunst, zunächst einmal ihre soziale Kompetenz. Wir hatten einen Dreh mit Kindern, da ist ein hohes Maß an Empathie und Menschlichkeit Pflicht. Bezüglich der schauspielerischen Leistungen könnte ich nicht glücklicher sein. Haley, Justus, Hans und Kim ziehen den Betrachter durch ihr Spiel mitten ins Geschehen. Sie schaffen es, mehrdimensionale, ambivalente Charaktere zu zeigen, samt Brüchen und Schatten. Für mich ist die Zusammenarbeit mit einem solchen Ensemble ein Privileg.

TSP: Ich glaube, alle haben die Qualität des Romans und der Drehbücher erkannt und hatten große Lust auf dieses ungewöhnliche Projekt. Es ist nicht einfach, neben wirklich talentierten Kinderdarsteller*innen zu bestehen, denen vor und hinter der Kamera solche Aufmerksamkeit im Umgang zu Teil wird.

Mit Schauspielern im Kindheitsalter zu arbeiten ist besonders schwierig?

FOE: Hier stand das Kindeswohl an erster Stelle. Unsere jungen Darsteller lesen andere, „entschärfte“ Drehbücher, es wird vermieden, sie in spannungsgeladene Situationen zu bringen. Zudem werden sie schulisch und psychologisch betreut und verbleiben nur eine überschaubare Zeit am Set.

TSP: Kinder als Spieler*in sind grundsätzlich nicht schwierig, sie sind neugierig und wollen ihre Sache gut und richtig machen. Die Arbeit am Set mit ihnen braucht aber eine genaue Vorbereitung in langen Gesprächen und Planungen mit einer medienpädagogischen Fachkraft, einem Kindercoach, den Eltern, der Schule und den Behörden. Eine sortierte Zuwendung und die Fähigkeit der Regie, sich in die Perspektive der Kinder zu versetzen, ist notwendig. Isabel und Julian haben das großartig gemacht. Isabel hat zudem für die Kinder extra Drehbücher geschrieben, dadurch kannten sie nur ihre eigene, gewaltfreie und kindgerechte Geschichte.

Die Musik für eine Thriller-Serie ist besonders wichtig, weil sie Atmosphäre schafft. Wie ist es Ihnen gelungen, eine zweifachen Oscar-Preisträger zu gewinnen?

FOE: Wenn ein Künstler ganz oben angekommen ist wie Gustavo Santaolalla, dann entscheidet er rein nach eigener Vorliebe, welches Projekt ihn interessiert. Er hat ja keine Karriereerwägungen mehr. Zudem hatten wir vermutlich Glück, dass er einst auf einer deutschen Schule war und somit einen Bezug zu unserer Kultur besitzt. Gustavo hat sich gleich nach der Lektüre der ersten beiden Drehbücher entschieden, weil es ihm sehr gut gefiel. Seine Musik ist die geheime Zutat der Serie.

TSP: Gustavo und sein kreativer Partner Juan Luqui waren von der psychologischen Raffinesse der Story überzeugt und haben sofort die Themen der Serie identifiziert. Es war schön zu sehen bzw. zu hören, wie beide den Zugang zu den Charakteren genutzt haben, um musikalische Themen schon auf Grund der Drehbücher zu erarbeiten. Diese Themen konnten Isabel, Julian und die EditorInnen sofort im Schneideraum nutzen.

Hatten Sie während der Dreharbeiten schlaflose Nächte?

FOE: Nie. Ich habe das Glück, mit gestandenen Profis zusammenzuarbeiten, da schläft man gut. Tom und Isabel waren in ihren Planungen so punktgenau, dass man sich keine Sorgen machen musste, selbst in pandemischen Zeiten.

TSP: Was kann ich da noch ergänzen?

Romy Hausmanns Thriller wurde in 24 Sprachen übersetzt. Können Sie schon abschätzen, ob Ihre Serie auch international gesehen werden wird?

FOE: Das wird sie bestimmt. Netflix wird die Serie in nahezu 200 Ländern ausstrahlen. Wir sind sehr gespannt, wie sie aufgenommen werden wird.

Ist Romy Hausmann eigentlich glücklich damit, was Sie aus Ihrer Romanvorlage gemacht haben?

FOE: Romy hat die Serie innerhalb kürzester Zeit zweimal geschaut. Danach hat sie uns eine wunderbare Nachricht über ihre Eindrücke zugesandt. Wir sind überglücklich, dass sie ihren Herzblut-Roman in unserer Serie wiedergefunden hat.

Manchmal ist es so, dass man – wenn man ein Buch gelesen hat und dann seine Verfilmung sieht – dass man dann enttäuscht ist. Wieso ist das bei „Liebes Kind“ nicht der Fall? Vielleicht, weil Sie sich doch ein wenig von der Vorlage entfernt haben und ein eigenes Kunstwerk geschaffen haben, das sein eigenes Medium verträgt?

FOE: Wir haben Romys Universum bestimmt ein bisschen verändert und an die dramaturgischen Notwendigkeiten einer Serie angepasst, aber wir haben die Integrität ihrer Erzählung und ihrer Figuren bewahrt. Leser werden kein Fremdheitsgefühl beim Zuschauen empfinden. Isabels und Julians Adaption ist mit reichlich Fingerspitzengefühl entstanden, mit großer Liebe für die Stärken des Romans. TSP: Die Adaption in ein anderes Medium kann nie zu 100% werkgetreu sein und entspricht nicht exakt dem Original. Einige Elemente wie Plot oder Figuren sind vielleicht den Möglichkeiten der filmischen Darstellung angepasst. Ich finde, die Verfilmung von „Liebes Kind“ ist wirklich gelungen, weil Isabel und Julian ein tiefes Verständnis der Geschichte hatten und so den Geist des Romans eingefangen haben.

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Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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