„Ich verstehe das nicht – ich selbst bin lesesüchtig, aber meine Kinder hängen stundenlang mit dem Smartphone herum.“ Wie oft höre ich diesen Satz enttäuschter Eltern. Denn natürlich wünscht sich jeder, der die Begeisterung, die das „Abenteuer Lesen“ bereitet, kennengelernt hat, dass auch seine Kinder und Enkelkinder davon angesteckt werden. Die Eltern, die so klagen, wundern sich, dass sie als lesende Vorbilder nicht genügen, um die eigenen Kinder zum Lesen zu animieren. Dass es nicht ausreicht, dass die Kinder sie häufig mit einem Buch in der Hand sehen, um selbst neugierig zu werden und diese Welt für sich zu erobern.
Eltern, die dies stört, sollten sich nicht auf das Wundern und Bedauern zurückziehen. Sie sollten sich nicht damit abfinden, dass sich womöglich die Zeiten geändert haben: dass auf ihre Kinder das Smartphone zunächst anziehender wirkt als ein Buch. Denn ihre Kinder sind nicht diejenigen, wegen denen die Entdeckung der Leselust scheitert. Vielmehr hat sich die Umwelt von Kindern verändert und mit der Umwelt ihre Wahrnehmungsfähigkeit. Es klingt ein bisschen einfallslos, dies zu schreiben, aber ja: Die Welt ist schneller geworden. In aller Regel schlägt das Schnellere das Langsamere, es erzielt leichter Aufmerksamkeit – jedenfalls zunächst. Und das Schnellere ist heute im Zweifel das, was im Internet passiert.
Der Aufwand, den das Lesen eines Buchs im Gehirn verursacht, ist größer als derjenige, der beim Plaudern auf WhatsApp oder beim Gamen entsteht. Bis die Belohnung durch Leseglück kommt, vergeht mitunter viel mehr Zeit als bei den meisten computervernetzten Beschäftigungen. Wer sich auf ein Buch einlässt, muss also die Erfahrung gemacht haben, dass die Belohnung durch Leseglück mit großer Wahrscheinlichkeit kommen wird; dass es aber vielleicht ein bisschen dauern kann; weil nur wenige Bücher – anders als WhatsApp – gleich nach den ersten Zeilen ihre ganze Schlagkraft und Begeisterungsfähigkeit entfalten. So richtig satt und glücklich ist man doch meist erst, wenn man das ganze Buch fertig gelesen hat. Es ist so ähnlich, wie wenn man mehrere Gänge eines köstlichen Menüs zu sich nimmt – erst das Dessert macht den Genuss komplett.
Viele Kinder heute kommen gar nicht bis zum Dessert. Vielleicht geben sie dem Buch durchaus eine Chance – gerade in Familien, in denen viel gelesen wird, ist dies zuverlässig der Fall. Kinder sind neugierig und natürlich probieren sie aus, was ihre Eltern so machen. Aber dann stellt sich das Buchlesen zunächst einmal als mühsamer Vorgang dar. Wenn man noch kein geübter Leser ist, lässt die Belohnung auf sich warten. Und nebendran liegt das Smartphone. Da muss man nur ein paar Knöpfe drücken, und schon ist man mitten drin in spannenden Dialogen mit Freunden oder in noch spannenderen Spielen. Wieso soll ich mich da Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort durch ein Buch ackern?
Wer nicht weiß, wie groß die Belohnung durch Leseglück und Begeisterung am Ende eines gelesenen Buchs ist, wird sich nicht auf diesen riskanten Weg begeben. Der macht lieber was anderes. Hier kommen nun wir Erwachsenen ins Spiel. Wenn wir uns wünschen, dass unsere Kinder zu begeisterten Buchlesern werden, dann müssen wir zu der Brücke werden, die unsere Kinder zum Leseglück überschreiten. Ich hoffe, Sie verdrehen wegen der Offensichtlichkeit meiner Feststellungen jetzt nicht Augen, denn vermutlich sind Ihnen diese Zusammenhänge ohnehin klar. Aber wir sollten es uns immer wieder vergegenwärtigen!
Deshalb möchte ich es heute ganz deutlich formulieren: Wenn Ihr Kind nicht liest, dann ist nicht Ihr Kind schuld oder WhatsApp oder die Schule und ihre Lehrer, die das nicht auf die Reihe kriegen. Nein, die Verantwortung dafür liegt allein bei Ihnen als erwachsener Mensch, der in der Lage ist, das Verhalten eines Kindes zu beeinflussen.
Wenn Sie wollen, dass Ihr Kind liest, dann müssen Sie zunächst viel von Ihrer eigenen Zeit dafür hergeben. Sobald Ihr Kind halbwegs geradeaus schauen kann, sollten Sie ihm ein Buch vor die Nase halten. Und so geht das dann weiter. Jeden Tag sollten Sie sich viel Zeit nehmen, um mit Ihrem Kind Bücher anzuschauen und um ihm vorzulesen. Auch, wenn Ihr Kind bereits selber zu lesen gelernt hat, sollten Sie ihm weiter vorlesen. Ich lese unserer ältesten Tochter noch immer jeden Abend vor. Sie wird demnächst dreizehn. Die Kinderbücher haben wir hinter uns. Wir entdecken gerade gemeinsam Siegfried Lenz und Günter Grass. Bei uns bekommt jedes der drei Kinder jeden Abend seine eigene Vorlesezeit. Das macht mir nicht immer Spaß, ich bin oft müde. Aber meine Frau und ich wollen die Begeisterung fürs Lesen in ihnen entfachen und erhalten.
Unser jüngster Sohn hat die erste Klasse hinter sich. Eigentlich kann er jetzt selber lesen. Aber er empfindet es noch als anstrengend. Er mag noch kein komplettes Buch allein lesen. Deshalb teilen wir uns Bücher auf. Ich lese drei Viertel vor und er liest ein Viertel vor. So kommen wir voran, erleben gemeinsam viele Leseabenteuer und mein Sohn hat längst kapiert, dass es sich sehr lohnt, ein Buch zu Ende zu lesen, denn das leckere Dessert kommt garantiert.
Ich muss gestehen, dass es mich einige Geduld kostet, mich so sehr um das Leseglück meines Sohns zu bemühen. Ich muss zugeben, dass ich das nicht aus reiner Begeisterung tue. Ich muss einräumen, dass ich die Zeit und Energie dafür eigentlich gar nicht habe. Aber ich will unbedingt, dass auch er die wunderbare Welt des Lesens für sich erobert. Und deshalb bin ich bereit, viel dafür zu geben.
Das ist es, was wir begreifen müssen: Zunächst einmal müssen wir Erwachsenen viel geben. Wenn wir dies nicht tun, solange unsere Kinder noch jung, aufnahmefähig und beeinflussbar sind, dann fährt der Lesezug schon sehr bald ab. Die Begeisterung fürs Lesen sollte man möglichst als Kind entwickeln. Und im Zweifel muss sie ein Erwachsener wecken. Dazu braucht es Zeit, eine Insel der Ruhe und ein Buch.
Es ist beim Lesen wie bei (fast) allen Dingen im Leben: So richtig Spaß macht es erst, wenn man es gut kann. Viele der heutigen Kinder und Jugendlichen erreichen diesen Status gar nicht mehr. Sie können nicht flüssig und schnell lesen. Es bedeutet für sie Mühe. Deshalb stimmt für sie das Verhältnis zwischen Mühe und Belohnung nicht. Wenn wir Erwachsenen wollen, dass unsere Kinder Lesebegeisterte wie wir selbst werden, müssen wir mit ihnen so lange üben bis das Lesen für sie mühelos wird. Erst dann wird die Lektüre eines Buchs zum Genuss und der Belohnungseffekt durch Leseglück stellt sich garantiert ein.