ISBN 978-3-8090-2705-8

560 Seiten

€ 15,00

Der Pfarrer Adam und seine Frau Ulrika haben ihre Tochter voller Liebe erzogen. Dennoch wird Stella eines Tages als Mörderin vor Gericht gestellt. Mattias Edvardssons Krimi „Die Lüge“ ist ein Meisterwerk.

Mattias Edvardssons Krimi „Die Lüge“ erzählt von einer scheinbar idealen Familie, die in Abgründe stürzt

Titelbild Die Lüge

© Suzanne Tucker shutterstock-ID: 574861054

Sie zogen ihre Tochter so auf, dass keine Mörderin aus ihr werden konnte

Sie hielten sich für eine besonders intakte Familie: der Pfarrer Adam, seine Frau Ulrika, die eine erfolgreiche Strafverteidigerin in Schweden ist, und ihre 19-jährige Tochter Stella. Sie zogen ihr Kind groß, wie man dies idealerweise in einer Familie tut: Indem man gemeinsam nachdenkt und diskutiert und Entscheidungen gemeinsam trifft. Indem man sich Zeit nimmt für sein Kind und ihm alles fürs Leben Notwendige erklärt. Indem man ihm die Vorzüge von Freiheit und gegenseitigem Vertrauen erläutert und wieso es sinnvoll ist, die grundlegenden Regeln von Ethik und Moral einzuhalten.

Alle Indizien legen nahe, dass die Tochter einen Mord begangen hat

Sie hielten ihr Kind zwar nicht für ein Vorzeigekind, aber Stella schien ganz offensichtlich auf dem richtigen Weg zu sein: Sie war bis vor kurzem eine gute Handballspielerin auf Jugend-Nationalmannschaftsniveau und jobbte nach ihrem Schulabschluss bei H&M, um Geld zu sparen für eine große Asienreise. Doch eines Tages erfahren die Eltern, dass ihre Tochter in Untersuchungshaft sitzt. Ihr wird vorgeworfen, einen 32-jährigen, reichen und attraktiven Unternehmer erstochen zu haben. Für die Eltern ist dies unvorstellbar. Allerdings legen alle Indizien nahe, dass an diesem Tatvorwurf durchaus etwas dran ist.

Zunächst hält man eine Distanz zu diesen Eltern – das ändert sich aber

Hört man die Inhaltsbeschreibung von Mattias Edvardssons Kriminalroman „Die Lüge“, kann man sich durchaus vorstellen, dass diese Geschichte spannend werden könnte. Allerdings denkt man sich auch, dass das schon seltsame Eltern sein müssen, die überhaupt nicht bemerken, auf welchen gefährlichen Gleisen sich ihre Tochter bereits seit Jahren bewegt. Man hat also, ehe man liest, eine gewisse Distanz zu diesem Elternpaar. Dies ändert sich schlagartig, wenn man mit der Lektüre beginnt – sofort ist man gebannt. Dies hat mit Mattias Edvardssons großer Erzählkunst und feinen Beobachtungsgabe zu tun.

Trägt dieses Mädchen eine geheime, psychopathische Seite in sich?

Der schwedische Schriftsteller erzählt seine Geschichte aus drei Perspektiven: Das erste Drittel berichtet aus der Sicht des Vaters. Der Pfarrer Adam erzählt von der Liebe und Umsicht, mit der er seine Tochter erzog. Er berichtet von alltäglichen, aber für Eltern so wichtigen Erlebnissen, die diese einzigartige Bindung offenbaren, die nur zwischen Eltern und Kindern entstehen kann. Er wirkt in seinem Denken wie ein gewöhnlicher, nein, wie ein besonders guter, ein vorbildlicher Vater. Jeder Leser, jede Leserin muss sich denken, dass es kaum einen besseren Vater als Adam geben kann, dass das Kind eines derartigen Vaters nur ein glückliches Kind sein kann. Umso schockierender die Wahrheit, dass Adams Tochter zur Mörderin geworden sein soll. Dieses Mädchen muss eine verborgene psychopathische Seite in sich tragen, denkt man, denn anders ist nicht zu erklären, dass aus dieser Familie eine Verbrecherin hervorgeht.

Mattias Edvardssons Mörderkind entpuppt sich als erschreckend normal

Doch dann kommt das zweite Drittel von Mattias Edvardssons Meisterwerk. Nun erzählt der Schriftsteller aus der Perspektive der Tochter. Und war man eben noch vollständig in der Gedankenwelt des Vaters aufgegangen, stellt man fest, dass einem die Überlegungen der Tochter genauso logisch und normal und altersadäquat erscheinen. Stella entpuppt sich keineswegs als Psychopathin, sondern als normaler, etwas wilderer Teenager; als Mädchen, das auf Partys geht, mit Jungs knutscht und erste Erfahrungen mit Alkohol macht. Man versteht dieses weder dumme noch böse Mädchen, das eine Mörderin sein soll, in all seinen Handlungen sehr gut.

Alle drei Figuren sind konsistent und glaubwürdig – was ist hier faul?

Schließlich kommt das letzte Drittel, in dem wir die Sicht der Mutter einnehmen. Die Juristin Ulrika ist weniger emotional als der Pfarrersvater. Sie ist eine Analytikerin, aber durchaus mit einem warmen, für die Tochter brennenden Herzen. Auch ihrer Perspektive kann man sich keine Sekunde lang verschließen, weil Mattias Edvardsson sie uns – genauso wie die beiden Vorperspektiven – überzieht wie eine zweite Haut. Alle drei Figuren sind konsistent, ihre Handlungen sind glaubwürdig, der Autor kann gänzlich auf etwaige Inszenierungen verzichten, die bei schwächeren Kriminalromanen mitunter für Spannung sorgen müssen. Das wirkt alles echt wie das echte Leben und wir stecken tief in der Geschichte drin. Wir fühlen mit jeder einzelnen Figur mit, aber wir wissen bis zur letzten Seite nicht, was wirklich in besagter Mordnacht passiert ist. Denn Mattias Edvardsson portioniert seine Informationsweitergabe sehr raffiniert und dass der Roman „Die Lüge“ heißt, hat natürlich auch seinen Grund.

Von der ersten Seite an steuert „Die Lüge“ auf eine Katastrophe hin

Wodurch entsteht nun die Spannung? Zum einen aus dem Bewusstsein, dass in diese Horrorsituation jede Familie geraten kann, der Identifikationsgrad ist sehr hoch. Zum zweiten aus Mattias Edvardssons brillanter Beschreibung dessen, was zwischen Eltern und Kindern geschieht – was diese besondere Beziehung zwischen ihnen ausmacht. Dieses Buch ist also weit mehr als ein Krimi, es ist ein Roman über Erziehung, dies aber auf eine erstaunlich beiläufige Art. Wer „Die Lüge“ liest und Kinder hat, wird mehr über seinen Erziehungsstil nachdenken als bei der Lektüre vieler Familienratgeber. Zum dritten schließlich die Kriminalhandlung, die Mattias Edvardsson mit unbarmherziger Genauigkeit vor unseren Augen entfaltet: Wir lernen den schwedischen Strafvollzug kennen und erleben, welche Mittel ein Star-Verteidiger anwendet, um seine Mandantin vor dem Urteil „lebenslänglich“ zu bewahren. Allerdings ist uns schon sehr bald bewusst, dass die Katastrophe der Verurteilung sich wohl eher nicht verhindern wird lassen. Oder doch?

Mattias Edvardssons „Die Lüge“ ist der Kriminalroman des Jahres 2019

„Die Lüge“ ist zweifellos der Kriminalroman des Jahres 2019 und Mattias Edvardsson ein exzellenter Erzähler. Daran kann auch die peinliche Coverauswahl, die der Verlag getroffen hat, nicht rütteln: Einen psychologisch virtuosen Plot, der vornehmlich in Köpfen, Gerichtssälen und städtischer Umgebung spielt, mit einer schwedischen Klischee-Hütte an einem pseudo-düsteren Schweden-See zu bebildern, ist eine Unverschämtheit. Hier hätten Lektorat und Literaturagenten das Verlagsmarketing in die Grenzen weisen müssen. Diesen platten Umschlag hat dieser glaubwürdige, intelligente und absolut soghafte Krimi nicht verdient.

ISBN 978-3-8090-2705-8

560 Seiten

€ 15,00

Das Produkt können Sie bei einem unserer Partner* erwerben:

<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

Das könnte Sie auch interessieren:

Diese Geschichte hat eine Sogwirkung, der man sich schlechterdings nicht entziehen kann

Barbara Kingsolvers „Demon Copperhead“ ist ein scharfsinniger, leidenschaftlicher und berührender Roman!

Button: Zum Gewinnspiel der Osteraktion