Frau Bluhm liest „Das Haus der Malerin“: 4 von 5 Blu(h)men
Rose erbt ein Landhaus, während ihr Mann in einen Sexskandal gerät
Rose, die Hauptperson von Judith Lennox‘ Roman „Das Haus der Malerin“, hatte nie ein inniges Verhältnis zu ihrer steifen, unnahbaren Großmutter Edith. So ist die junge Mutter sehr verwundert, sich im Testament als Alleinerbin wiederzufinden. Nach Ediths Tod im Mai 1970, beschäftigt sich Rose mit der Hinterlassenschaft ihrer Großmutter, unter anderem mit dem Landhaus „The Egg“, von dessen Existenz niemand in der Familie wusste. Beim Sichten alter Papiere stößt Rose auf Briefe einer jungen Frau namens Sadie, die in den 1930er Jahren im regen Kontakt zu Edith stand und sich später als deren Schwester entpuppt. Doch leider ist dies nicht die einzige Überraschung, die Rose in dieser Zeit erwartet: Ihr Mann Robert wird in einen Sexskandal verwickelt und Rose steht mit ihren beiden Töchtern Katherine und Eve vor den Scherben ihrer Existenz. Von Selbstzweifel und Sorgen getrieben, beschäftigt sich Rose fieberhaft mit der Aufarbeitung der Biografie der unbekannten Großtante Sadie und entdeckt dabei düstere Geheimnisse, die bis ins Jahr 1928 zurückreichen.
Rose ist Physikerin, ihre Tante Sadie Künstlerin
Judith Lennox schreibt Romane für Frauen über Frauen. Auch „Das Haus der Malerin“ beschäftigt sich mit zwei wundervoll gestalteten Exemplaren dieser Gattung – Sadie und Rose. Der Roman selbst ist in zwei Handlungsstränge unterteilt, und schildert einmal die Erlebnisse von Rose in der Gegenwart der frühen 70er-Jahre, und zum anderen die Vorkommnisse rund um ihre Großtante Sadie aus den 30ern, welche auch aus der Perspektive Sadies erzählt werden. Beide Protagonistinnen sind sehr liebenswert, authentisch dargestellt und facettenreich ausgearbeitet. Schön finde ich, wie Judith Lennox in „Das Haus der Malerin“ die Gemeinsamkeiten der beiden verwandten Damen schildert, und dennoch ihre Gegensätze hervorhebt. Die studierte Physikerin Rose sieht die Welt zwangsläufig durch andere Augen als die Künstlerin Sadie; und doch gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Frauen, die sich nie begegnet sind. Es ist interessant zu erleben, wie sich die Nachforschungen von Rose Stück für Stück ergänzen und nach und nach allerlei Geheimnisse entschlüsselt werden.
Judith Lennox‘ „Das Haus der Malerin“ ist wie ein Kurzurlaub
Was dabei deutlich auffällt, ist der wahnsinnig dichte und farbenfrohe atmosphärische Aufbau beider Erzählstränge. Beide Frauen werden, obwohl sie sich nie begegnet sind, vereint durch das Haus „The Egg“, welches erst von Sadie, und später von Rose geerbt wurde. Manchmal nutzt Judith Lennox einen ganzen Absatz ausschließlich dazu, die Atmosphäre rund um das Haus selbst zu beschreiben, was dem Roman „Das Haus der Malerin“ Tiefe und Realismus verleiht. Die fast schon poetisch zu nennende Sprachzeichnung zieht sich durch das ganze Buch und macht es sowohl zum Lesevergnügen als auch zum Kurzurlaub. Man meint die torfige Erde in Sussex riechen zu können und hört beim Lesen fast schon den Ruf der Eulen, die in den Bäumen leben.
Eine gut durchdachte, bis zuletzt fesselnde Geschichte
Zusätzlich zu diesem sprachlich hochwertigem Lesevergnügen, liefert „Das Haus der Malerin“ eine gut durchdachte, bis zuletzt fesselnde Geschichte. Man liest mit Spannung, wie die beiden, in verschiedenen Zeitebenen angelegten Erzählstränge, ineinandergreifen und nach und nach ein schlüssiges Gesamtbild ergeben. Da Künstlerin Sadie Mitte der 30er Jahre plötzlich keine Briefe mehr schreibt, rätselt man von Anfang an, was wohl mit ihr passiert ist. Dazu noch die eindeutigen Anspielungen in den Briefen selbst, aus denen man schließen kann, dass Sadie sich bedroht und verfolgt fühlte. Ich gebe zu, selbst bis zuletzt konnte ich nicht erraten, was nun eigentlich wirklich passiert ist und bin umso begeisterter, als ich die Lösung des Rätsels nun kenne. Selbstverständlich hat Rose in der Gegenwart mit ganz anderen Anforderungen und Problemen zu kämpfen als ihre Großtante Sadie. Nachdem sie von ihrem Mann betrogen wurde, lebt sie den Alltag einer Frau der 70er Jahre, die versucht auf eigenen Beinen zu stehen und sich durch den Flugbetrieb, den sie leiten möchte, einen Platz in einer Männerdomäne zu erkämpfen. Was beide Frauen vereint: Sie waren ihrer jeweiligen Zeit weit voraus. Ein Umstand, der typisch ist für die Romane von Judith Lennox, und ein Umstand, den ich immer wieder großartig finde. Es kann einfach nicht genügend Bücher über tolle, starke Frauen geben. „Das Haus der Malerin“ ist so eines.
Gerne hätte ich noch mehr über die 1930er und 1970er Jahre erfahren
Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass die Schilderung des zeitlichen Kontextes noch etwas intensiver ausgefallen wäre. Die Rahmenbedingungen sind klar. Wo allerdings in der Protagonistenentwicklung und Atmosphäre viel Tiefe vorhanden ist, bleibt dieser Aspekt etwas oberflächlich. Es wäre mir ein Anliegen gewesen, noch mehr über die jeweiligen Jahrzehnte zu erfahren, von Begebenheiten zu lesen, die charakteristisch und prägend für die 30er und 70er Jahre waren. Trotz dieses kleinen Kritikpunktes, ist „Das Haus der Malerin“ eine wunderbare und spannende Geschichte, voller Lokalkolorit und Gefühl, die ich jederzeit wieder lesen würde.