22 BAHNEN – ab 4. September im Kino
Tildas (Luna Wedler) Tage sind streng durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Schwester Ida (Zoë Baier) kümmern – und an schlechten Tagen auch um ihre Mutter (Laura Tonke). Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor (Jannis Niewöhner) taucht auf, der große Bruder von Ivan, den Tilda fünf Jahre zuvor verloren hat. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle …

Die Schwestern Tilda und Ida leben mit ihrer alkoholkranken Mutter zusammen
Mit „22 Bahnen“ ist der jungen Autorin Caroline Wahl ein sehr schöner Debütroman gelungen. Ihre beiden Hauptfiguren, die Schwestern Tilda und Ida, schließt man sofort ins Herz. Tilda ist Anfang zwanzig und studiert Mathematik. Ihre Schwester Ida ist zehn Jahre alt. Die beiden leben mit ihrer alkoholkranken Mutter in einer Kleinstadt und halten so fest zusammen, dass man beim Lesen vor Rührung mitunter Tränen in den Augen bekommen könnte.
Die Mathematikstudentin Tilda jobbt an der Supermarktkasse
Weil die Mutter die meiste Zeit des Tages betrunken auf dem Sofa liegt, jobbt Tilda neben ihrem Studium als Kassiererin im Supermarkt, um das Familieneinkommen zu aufzubessern. Damit die Arbeit nicht so eintönig ist, lenkt sie sich mit einem Spiel ab: Tilda scannt die Waren ein, ohne zu schauen, wer sie aufs Band gelegt hat, um anhand der Zusammenstellung zu erraten, wer der oder die Käuferin sein könnte. Das liest sich dann in etwa so:
„Mineralwasser mit Kohlensäure, Mineralwasser mit Kohlensäure, Kinder Schokolade, Cola Kracher, Cini Minis, Lion Cereals, Smiley-Fries, Vollmilch, Vollmilch, Fischstäbchen, Tüte von der Fleischtheke, Toastbrot, Nutella, Nektarinen, Paradies-Creme Vanille, Paradies-Creme Karamell, Paradies-Creme Stracciatella.“ Tilda schätzt, dass die Person, die das alles aufs Band gelegt hat, Mitte 30 ist, „weiblich, definitiv Mutter, bisschen assi, rate ich, sage ‚32,49 Euro‘, schaue endlich hoch, und als ich in Viktors Gesicht blicke, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.“ Dies ist nur eine der leise-humorvollen Ideen, die Caroline Wahls seltsame Art zu erzählen, auszeichnet.
Zwischen Tilda und Viktor deutet sich eine zarte Liebesgeschichte an
Besagter Viktor spielt in dem Roman auch eine zentrale Rolle. Zum einen verbindet Tilda mit ihm eine verhängnisvolle Nacht und ein schlimmer Unfall, zum zweiten sind beide Schwimmer – auf das Schwimmen bezieht sich auch der Titel „22 Bahnen“ – und außerdem entspinnt sich zwischen Viktor und Tilda eine zarte Liebesgeschichte: „Ich halte seinem Blick auch noch Stand, als er sich über mich beugt wie ein Arzt über seine Patientin. Er legt seine rechte Hand auf meine linke Wange, und sein Blick wandert über mein ganzes Gesicht, als ob er irgendetwas suchen würde, irgendeine Antwort auf eine Frage, die ich nicht kenne. Dann treffen seine Augen wieder die meinen, und er schüttelt den Kopf. Viktor: Verrückt. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich: Womit? Er lässt sich Zeit mit der Antwort. Viktor: Mit dir.“
Darf Tilda für ihr Doktorandenstudium die kleine Schwester verlassen?
Als Tilda von ihrem Professor eines Tages angeboten wird, sich wegen ihres außergewöhnlichen Talents für ein Promotionsstudium in Berlin zu bewerben, steht sie vor schwierigen Fragen: Kann sie ihre zehnjährige Schwester mit der völlig lebensunfähigen Mutter allein lassen? Was wird aus ihrer sich im Entstehen befindlichen Liebe zu Viktor? Die Beantwortung dieser Fragen gelingt Caroline Wahl in ihrem so melancholischen wie hoffnungsvollen Roman in einer ziemlich eigenen, von Jugendjargon geprägten Sprache, die man gerne liest.