“Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt” – die Geschichte einer gebrochenen Familie
Wer sich für bildstarke, drastische, zum Nachdenken anregende Literatur begeistert und die Schriftstellerin Jesmyn Ward noch nicht kennengelernt hat, dem bietet sich nun eine wunderbare Chance: Dieser Tage erscheint der zweite Roman der 1977 geborenen Amerikanerin. “Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt” erzählt eine kleine Geschichte, die sich zu eindrucksvoller Großartigkeit entfaltet. Im Herzen der Handlung steht eine gebrochene Familie: Die junge schwarze Mutter Leonie ist drogenabhängig und arbeitet in einer Bar. Sie hat ein Kleinkind, Kayla, um das sie sich aber oftmals nicht kümmern kann, weil ihr eigenes Leben ihr längst entglitten ist. Eines davon sind die wiederkehrenden Halluzinationen, in denen ihr der verstorbene Bruder Given erscheint.
Michael sitzt im Gefängnis, weil er mit Drogen gehandelt hat
Zu Kaylas Glück gibt es Jojo, ihren dreizehnjährigen Bruder, der sich aufopfernd um das schützenswerte Mädchen kümmert. Dann ist da noch Leonies krebskranke Mutter und ihr Vater Pop, der sich müht, von dieser zerfallenden Familie das zusammenzuhalten, was noch vorhanden ist. Aber es ist nicht viel, was da noch gerettet werden könnte, und Pop ist alt – und es gibt ja auch noch das Problem mit Michael, Leonies Mann. Der ist weiß und sitzt im Gefängnis, weil er mit Crystal Meth gehandelt hat.
Was macht diesen Roman nur so unglaublich gut?
Wer nun glaubt, dass dies aber eine ganz schön krasse, ziemlich übertriebene Familienkonstellation ist, die man der Autorin unmöglich abkaufen kann, der irrt. Bereits nach wenigen Zeilen steckt man mitten drin in dieser Sippe und fühlt den Schmerz der einzelnen Protagonisten direkt, obwohl man doch selbst so ein völlig anderes Leben führt. Warum gelingt Jesmyn Ward dieses Kunststück? Es ist ganz einfach: Diese Schriftstellerin kann schreiben wie wenige. Sie findet Bilder, die verstörend sind, aber eben auch zutreffend. Sie erzählt farbenprächtig und dabei niemals manieriert, sondern immer direkt, hart, jedes Wort ein Treffer. Wenn es literarischen Boxkampf gäbe, Jesmyn Ward wäre wegen der Eleganz ihrer Faustschläge eine Meisterin.
Wir bekommen glaubwürdig gezeigt, wie das etablierte Amerika mit Schwarzen umgeht
Aber natürlich gibt es in diesem Roman auch eine große, beinahe das gesamte Werk überspannende Handlung: Die erzählt von Leonies Entschluss, Michael aus dem Knast abzuholen und wie sie diesen in die Tat umsetzt. Begleitet von Jojo, der kleinen Kayla und einer Freundin, deren Mann auch im Gefängnis sitzt. Was auf dieser Autofahrt passiert, ist so erschreckend wie entlarvend: Urmenschliches tritt zu Tage – es wird ins Auto gekotzt, Drogen werden genommen, es wird geweint, getröstet und auf ganzer Linie versagt, wobei dann doch irgendwer wieder zu einer kleinen Heldentat fähig wird; aber es passiert auf diesem Anti-Roadtrip auch Urunmenschliches. Denn wir befinden uns ungefähr in den USA der Gegenwart. Wir haben es mit Charakteren zu tun, die vornehmlich schwarz, arm und ausgegrenzt sind. Und wir bekommen sehr glaubwürdig gezeigt, wie die zeitgenössische rassistische Gesellschaft Amerikas mit solchen Menschen umzugehen pflegt: verabscheuungswürdig und ungerecht.
“Singt, ihr Lebenden und ihr Toten” wurde mit dem National Book Award ausgezeichnet
Ob am Ende alles gut wird mit Leonie, Jojo und Kayla? Stellen wir eine Gegenfrage: Kann so eine Geschichte überhaupt gut ausgehen? Das Interessante ist, dass die Beantwortung dieser beiden Fragen gar nicht wichtig ist. Man selbst jedenfalls fühlt sich nach der Lektüre gut. Weil man weiß, dass man selten ein vergleichbares literarisches Meisterstück in der Hand halten durfte. Jesmyn Ward wurde für “Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt” bereits mit dem National Book Award ausgezeichnet. Jede Wette: Weitere Preise werden folgen.