Herr Professor Hüther, die Anzahl der Demenz-Fälle scheint in der jüngsten Zeit zuzunehmen. Sie nennen dafür einen ziemlich ungewöhnlichen Grund?
Die rapide Zunahme von dementiellen Erkrankung ist Ausdruck des Umstandes, dass an unserer Lebensweise etwas nicht stimmt. Unser Sinn-entleertes Leben mit dem ständigen Druck des Funktionieren-Müssens führt dazu, dass zu vielen Menschen die Freude am Entdecken und am gemeinsamen Gestalten beim Älterwerden abhandenkommen. Wir brauchen einen bewussteren, auf die Stärkung unserer Selbstheilungskräfte ausgerichteten Lebensstil.
Entdecken und gemeinsames Gestalten hört sich ja eigentlich ganz simpel an. Was bewirkt es?
Es stimuliert das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen und die Bildung von Synapsen im Gehirn. Diese Freude ist Ausdruck des sogenannten Kohärenzgefühls – die innere Sicherheit, dass man sein Leben meistern kann, dass man eingebettet ist in eine menschliche Gemeinschaft. Wir müssten also in einer Welt leben, die wir überschauen und verstehen können. Und wir müssten auch das Gefühl haben, das, was wir verstanden haben, auch gestalten zu können. Und dass uns unser Leben als sinnhaft erscheint.
Und das wirkt noch in hohem Alter?
Ja. Weil das Gehirn lebenslang umbaufähig bleibt: Nervenzellen können auch noch im Alter neu gebildet werden und untereinander neue Verbindungen aufbauen. Das funktioniert aber nur, wenn es einem Menschen auch wirklich gut geht. Dieses Kohärenzgefühl ist regelrechter Dünger fürs Gehirn – und auch ältere Menschen spüren das als ein Gefühl tiefer Freude, manchmal ist es sogar Begeisterung.
Wie funktioniert das genau?
Wir haben im Gehirn einen äußerst wichtigen Bereich, das sind die emotionalen Zentren. Diese werden aktiviert, wenn man etwas selbst entdeckt, ein Problem gelöst oder eine Herausforderung gemeistert hat. Dann werden im Gehirn spezielle Botenstoffen freigesetzt, Die wirken so ähnlich wie Dünger und bringen Nervenzellen dazu, neue Fortsätze zu bilden und neue Verknüpfungen herzustellen.
Sie vertreten in Ihrem Buch die These, für Demenzerkrankungen seien nicht, wie bisher angenommen, Ablagerungen und Abbauprozesse verantwortlich, sondern ungünstige in den Hirnen der meisten Menschen abgelagerte Vorstellungen. Wie kommen Sie darauf?
Ich habe eigentlich nur zwei bisher unabhängig voneinander betrachtete Befunde zusammengeführt: die berühmte Nonnenstudie des amerikanischen Epidemiologen Snowdon und die eben genannten neurobiologischen Forschungsergebnisse. Snowdon hat zwischen 1986 und 2001mehr als 400 Nonnen eines Ordens zwischen 75 und 106 Jahren begleitet und regelmäßig mit den anerkannten Tests zur Messung von Demenz überprüft. Es gab nur verschwindend wenige Fälle. Das allein sagt noch nicht viel. Aber: Nachdem die Nonnen verstorben waren, hat er Autopsien von ihren Hirnen gemacht – und dabei gesehen, dass genau wie bei der Durchschnittsbevölkerung ein Drittel ein ebenso stark abgebautes Hirn hatte. Und trotzdem war kaum eine Nonne dement geworden. Die Erklärung bietet sich erst jetzt mit dem neuen Wissen der Neurobiologie zur Umbaufähigkeit des Gehirns: Den Abbau im Hirn hatten die Nonnen auch, aber in deren Gehirnen ist es gelungen, ihn durch regenerative neuroplastische Kompensation auszugleichen, also neue Verbindungen herzustellen.
Die rasante Zunahme von Demenz ist in der Kriegsgeneration, auch der der Kriegskinder, diagnostiziert worden. Gibt es da einen Zusammenhang?
Tatsächlich hat die Generation, die bis jetzt den großen Teil der Demenzfälle ausmacht, den Zweiten Weltkrieg erlebt, als junger Soldat, Schwester, als Kind in brennenden Städten. Wenn wir uns das nochmal unter dem Stichwort Nonnenstudie und salutogenetische Faktoren ansehen, erkennen wir: Die meisten konnten damals und oft sogar bis heute gar nicht wirklich verstehen, was da abläuft, sie konnten kaum etwas gestalten und etwas Sinnhaftes haben sie in dem ganzen Irrsinn gewiss nicht finden können. Viele dieser Generation werden sehr alt, sie bleiben am Leben, weil sie ja medizinisch gut versorgt werden, aber das führt ja nicht dazu, dass sie sich auch als angenommen und bedeutsam erleben und sich auf den nächsten Tag freuen. Das haben wir dieser Generation nicht ermöglicht.
Sie finden die Art und Weise, wie wir mit unseren Alten oder mit dem Älterwerden umgehen würdelos.
Ja. Da bekommt man mit 40 schon mitgeteilt, dass man nun zum alten Eisen gehöre und MitarbeiterInnen, die gern noch weiter tätig gewesen wären, werden in den Fünfzigern in die Rente geschickt, und wenn sie allein nicht mehr zurechtkommen, ins Altenheim. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn am Ende sehr viele Menschen in eine Situation kommen, in der sie fühlen, dass sie nutzlos, ungewollt sind. Da findet dann auch keine Regeneration und Selbstheilung im Gehirn mehr statt.
Was würden Sie älteren Menschen konkret empfehlen, um das Potential ihres Gehirns wieder zu aktivieren?
Im Grunde wissen wir das alle, es fällt uns nur unendlich schwer, uns daran zu halten: sich die Freude am eigenen Entdecken und Lernen nicht durch andere verderben lassen, begeisterungsfähig bleiben, weniger essen und besser essen, sich bewegen, sich nicht an dem orientieren, was andere für wichtig halten – das ist alles gut für uns. Das Wichtigste aber scheint mir: Ich darf mich nicht davon abbringen lassen, meinem eigene Leben einen Sinn verleihen zu wollen und ein Leben zu führen, das dieser Sinngebung entspricht. Und ich kann meine Beziehungen zu anderen Menschen würdevoll gestalten und mich mit Ihnen gemeinsam auf den Weg machen. So, dass ich über mich hinauswachse, statt diese anderen zu benutzen, um mich selbst zu stärken. Für all das braucht man keine Medikamente, all das geht auch im Alter noch sehr gut.
Es geht also um ein Lebensgefühl?
Wenn die Alten sich wohl fühlen und Lust aufs Leben haben, dann entdecken sie auch immer wieder Neues und Spannendes und schaffen sich damit eine wieder überschaubare, von ihnen gestaltbare Welt. Am besten geht das gemeinsam mit anderen Menschen. Viele Ältere tun das bereits. Sie lassen sich nicht aufs Abstellgleis schieben. Sie sind aktiv, engagieren sich, sind kulturell interessiert. Sie bilden Gemeinschaften, fahren zusammen Rad oder wandern, unternehmen Reisen. Sie verleihen ihrem Leben einen Sinn, machen es verstehbar und gestaltbar, und damit ist alles gut, genau wie für die Nonnen in deren Leben. Und zur Überraschung der Mediziner beginnt die Häufigkeit von Demenzerkrankungen seit ein paar Jahren ja auch schon zu sinken.
Das klingt hoffnungsvoll, aber was ist mit denen, die bereits dement sind?
Auch da gibt es eine interessante Entwicklung. Um Geld zu sparen und Patienten effektiver begleiten zu können, haben die Träger großer Pflegeeinrichtungen ihre Prozesse bisher organisiert wie einen Fabrikbetrieb. Da wird den Patienten alles dargereicht, alles abgenommen – mit dem Ergebnis, dass sie immer unselbständiger, immer behinderter werden. Damit steigen auch die Pflegekosten. Das hat manche Leiter solcher Häuser auf die großartige Idee gebracht, statt neue große Kästen zu bauen, Immobilien in der Innenstadt zu erwerben und dort Wohn- oder Hausgemeinschaften zu eröffnen …
… in denen jetzt diese Senioren untergebracht sind?
Ja. Da kann sogar ein Drittel Demente mit dabei sein. Die werden von der Gemeinschaft einfach mitgenommen und schälen dann eben Möhren fürs Essen und gehen nicht einkaufen. Die alten Menschen aktivieren sich gegenseitig so, dass sie wieder Dinge tun, die sie schon jahrelang nicht mehr gemacht haben. Und wenn da noch gelegentlich Kinder aus dem benachbarten Kindergarten oder der Schule vorbeikommen, umso besser! Manche müssen in der Pflegestufe zurückgestuft werden, weil sie wieder so viel können. Pflegekosten und Medikamentenverbrauch gehen zurück. Ich finde das eine sehr menschliche Lösung und ich nehme an, dass sie in den nächsten Jahren um sich greift. Es ist nur eigenartig, dass das in der Bevölkerung kaum bekannt geworden ist.
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