Künstliche Intelligenz verfügt über die Fähigkeit zu echter Intuition
Manfred Spitzers Buch „Künstliche Intelligenz“ macht Mut und Angst zugleich. In seiner umfassenden und erstaunlich aktuellen Darstellung – die zitierten Studien sind teils gerade mal einige Monate alt – zeigt der Neurowissenschaftler, wo die Menschheit in Sachen artifizieller Intelligenz steht und was es mit dem viel diskutierten ChatGPT auf sich hat. Zunächst aber erläutert Manfred Spitzer, wie Künstliche Intelligenz funktioniert und wie sie sich von Algorithmen unterscheidet: Algorithmen sind von Menschen geschriebene Programme, deren Arbeitsweise grundsätzlich von Menschen nachvollzogen werden kann. KI dagegen ist ein neuronales Netzwerk, das etwas hat, was bislang lediglich Menschen zugeschrieben wurde: Intuition.
Im Vergleich zur KI ist ein Algorithmus simpel und einfältig
Künstliche Intelligenzen, schreibt Manfred Spitzer, „arbeiten keine Algorithmen ab und führen keine logischen Schlüsse durch. Vielmehr wandeln sie einen Input in einen Output um, wie Gehirne das auch tun: Indem der Input über Synapsen zu anderen Neuronen weitergereicht wird und dadurch geformt wird, dann noch mal weitergereicht und umgeformt (und dann noch mal, über möglicherweise einige Dutzend solcher Zwischenschichten), bis schließlich die Outputschicht erreicht wird, wo die Information dann umgeformt als Output vorliegt.“
Intuition ist Wissen, dessen Zusammensetzung niemand nachvollziehen kann
Wenn wir denken, so Manfred Spitzer, dann tun wir nichts anderes: „In unserem Gehirn mit seinen etwa 1015 Synapsen laufen Nervenimpulse über diese Synapsen und werden dort je nach der Stärke jeder einzelnen Synapse (die letztlich das Ergebnis unserer Lebenserfahrung ist) mehr oder weniger stark weitergegeben und damit umgeformt. Dadurch fällt uns dann zu irgendetwas (Input) irgendetwas ein (Output). Alle Umformungen werden durch die Stärke der jeweiligen Synapsen bestimmt, über die der Input an den vielen Neuronen des Netzwerks jeweils läuft. Niemand kann das nachvollziehen, weder wir selbst noch irgendjemand anderes. Deshalb sprechen wir von Intuition.“
Der Anfang des Siegeszugs von KI begannt mit dem Spielen
Die eigentlich schockierende Nachricht, die Manfred Spitzers Buch überbringt ist die, dass wir das, was geschieht, wenn eine Künstliche Intelligenz aktiv ist, nicht vollumfänglich verstehen – und damit auch nicht kontrollieren können. Doch dazu später. Der Professor für Psychiatrie liefert viele verblüffende Beispiele, was Künstlicher Intelligenz bereits jetzt gelungen ist: Den Anfang machten Spiele. So besiegte die KI AlphaGo den Koreaner Lee Sedol – den weltbesten Spieler des uralten Brettspiels Go. Der Sieg allein war nicht das Erstaunliche, vielmehr die Tatsache, wie schnell die Künstliche Intelligenz lernte – und besser machte – was die besten Go-Spieler der Welt in 3.000 Jahren lernten. Auch erschütterte es die Go-Gemeinde, dass die KI nicht dumpf oder mechanisch spielte, sondern „wunderbar“, „intuitiv“ und „kreativ“.
Künstliche Intelligenz kann Krebs erkennen und Antibiotika entdecken
Aber KI hat auch gelernt, Hautkrebs besser zu erkennen als Ärzte. Sie half dabei, neue Antibiotika zu entdecken. „Anstatt mit biochemischen Methoden Tausende von Molekülen auf antibiotische Wirksamkeit hin zu untersuchen, gingen die Wissenschaftler einen völlig neuen Weg. Sie trainierten ein tiefes neuronales Netzwerk anhand einer Sammlung von 2335 Molekülen mit bekannter, vorhandener oder nicht vorhandener antibiotischer Wirkung auf das Bakterium Escherichia coli. Auf diese Weise lernte das Netzwerk die Eigenschaften von Molekülen gewissermaßen Atom für Atom und konnte dann molekulare, funktionelle Einheiten erkennen (vorhersagen), die auf eine antibiotische Wirksamkeit hindeuteten. Danach wendeten sie das Modell auf 107 Millionen Moleküle aus einer Datenbank an und konnten dadurch 99 besonders vielversprechende Substanzen identifizieren.“
Wenn KI in terroristische Hände gerät, kann sie die Welt zerstören
KI wird uns in vielen Bereichen des Lebens helfen. Allerdings ist sie auch brandgefährlich – wenn sie in falsche Hände, etwa die von Terroristen oder Despoten, gerät. Denn dadurch, dass wir nicht bis ins letzte Detail verstehen können, wie Künstliche Intelligenz zu ihren Entscheidungen kommt, können wir sie auch nicht vollumfänglich kontrollieren. Längst gibt es Waffensysteme, die Ziele angreifen, ohne dass eine „Datenverbindung zwischen Bediener und Munition erforderlich ist“, so Manfred Spitzer.
Eine KI-Drohne tötete in einer Simulation ihren eigenen Bediener
Das krasseste Beispiel, von Manfred Spitzer angeführte Beispiel in diesem Zusammenhang, ist eine KI-gestützte Drohne, die in einem simulierten Test eine feindliche Luftabwehr ausschalten sollte. Allerdings traf der Mensch die letzte Entscheidung über die Zerstörung von Flugabwehrraketen über Go oder No-Go. „Nachdem die KI jedoch im Training darin bestärkt worden war, dass die Zerstörung der Flugabwehrraketen die zu bevorzugende Option wäre, entschied sie, dass die No-Go-Entscheidungen des Menschen ihre höhere Mission – die Zerstörung der Luftabwehr – beeinträchtigen würden, und griff den Bediener in der Simulation an. […] Das KI-System stellte fest, dass es die Bedrohung zwar erkannte, der Bediener ihm aber manchmal sagte, es solle die Bedrohung nicht ausschalten. Es bekam jedoch seine Punkte, in dem es die Bedrohung ausschaltete. Was hat es also getan? Es tötete den Bediener […], weil diese Person es daran hinderte, sein Ziel zu erreichen.“ Als man dem System beigebracht habe, nicht den Bediener zu töten, griff es den Kommunikationsturm an, über den der Bediener mit der Drohne kommunizierte, um diese daran zu hindern, das Ziel zu töten.
Manfred Spitzer fordert eine strenge Regulierung Künstlicher Intelligenzen
Manfred Spitzer kommt dennoch zu einem insgesamt positiven Fazit, was den Einsatz von Künstlicher Intelligenz angeht. Ein Satz, den er immer wiederholt, ist folgender: KI wird nicht Menschen ersetzen, aber die Menschen, die KI nutzen, werden die Menschen ersetzen, die das nicht tun. Allerdings fordert Manfred Spitzer eine strenge Regulierung. Künstliche Intelligenzen wie ChatGPT müssten die Lösung bestimmter Aufgabenstellungen verweigern. Wenn etwa ein Nutzer eine Künstliche Intelligenz auffordere, etwas Kriminelles zu entwickeln – zum Beispiel einen tödlichen Pandemieerreger – müsste die KI hier streiken. „Die Verantwortung trägt derjenige, der die KI publiziert bzw. vermarktet“, schreibt Manfred Spitzer.
Diejenigen, die KI zur Verfügung stellen, tragen die Verantwortung
„Wenn also KI mit sensiblen Daten trainiert wird, dann liegt dies in der Verantwortung desjenigen, der diese KI trainiert. […] Es ist wie bei der Wahrheit und Twitter, dem Hass und Facebook oder der Radikalisierung und Youtube: Wenn man keine Riegel vorschiebt, dann ‚passiert‘ es eben – und niemand ist dafür verantwortlich. Aber jemand verdient! Und genau hier muss man den Hebel ansetzen.“ Die versteckten Kosten zu verstaatlichen und die Gewinne zu privatisieren – dies sei das Geschäftsmodell so mancher großer Unternehmen. „Dem müssen Gesellschaft und Politik entgegentreten.“ Um die Bedeutung dieses Satzes vollumfänglich zu verstehen, ist es nötig, die Details zu kennen. Manfred Spitzers „Künstliche Intelligenz“ ist eine Lektüre, an der man als aufgeklärte, verantwortungsbewusstes Mitglied der Gesellschaft schier nicht vorbeikommt. Es ist ein spannendes, aufrüttelndes und auf für naturwissenschaftliche Laien größtenteils sehr gut verständliches Buch.