Frau Bluhm liest „Im siebten Sommer“: 4 von 5 Blu(h)men
Manchmal verändert eine Postkarte dein ganzes Leben …
Rose hatte bisher kein einfaches Leben: Ihr Vater verschwand, als sie neun war. Daraufhin kümmerte sie sich um ihre schwer depressive Mutter, die sich wenige Jahre später das Leben nahm. Auf der Suche nach Liebe und Halt heiratete Rose den ersten Mann, der ihr einen Antrag machte. Fast 15 Jahre später steht Rose nun vor den Trümmern ihrer Ehe, als sie mit ihrer 7-jährigen Tochter Maddie eines Nachts, nach einem eskalierten Streit, ihren Mann verlässt. Nichts als eine kleine Tasche und eine Postkarte nehmen die beiden auf ihrer Flucht mit. Eine Postkarte, die Rose vor über sieben Jahren nach einer flüchtigen Begegnung von einem Mann geschickt bekam und zum Leuchtturm ihrer Hoffnungen wurde. Sie macht sich auf den Weg, um diesen Frasier zu suchen, der sich damals so unversehens in ihr Herz stahl. Doch im kleinen Städtchen Millthwaite angekommen, beginnt Rose langsam zu begreifen, dass sie alleine für ihr Glück verantwortlich ist.
„Es gibt keine ersten Anzeichen. Er hat mich ganz langsam erstickt, und ich habe mich so an den Mangel von Sauerstoff gewöhnt, dass ich es gar nicht gemerkt habe.“
Wir Leser erleben Rose zunächst als zögerliche, in sich gekehrte und sehr unsichere Frau. Erst nach und nach bekommt man durch Rückblenden mit, wie ihr Leben bisher verlaufen ist und welchen Tiefpunkten und Schrecken sie ausgesetzt war. Oder sich selbst ausgesetzt hat, denn wie Rose selbst, erkennen wir als Leser im Laufe des Buches auch, welch schwieriger und langwieriger Prozess es sein kann, sich aus dem Abhängigkeitsverhältnis einer gewaltsamen Ehe zu befreien. Je näher man Rose und ihre Geschichte kennenlernt, umso lieber mag man sie anschließend; scheinen manche ihrer Verhaltensweisen anfangs total irrational und merkwürdig, so kann man sie später verstehen und mit der jungen Frau fühlen.
Es ist nicht damit getan, die Klinke in die Hand zu nehmen und zu gehen!
Die Autorin Rowan Coleman beschreibt mit Roses Geschichte, auf einfühlsame und authentische Weise, den Weg einer Frau aus einem von häuslicher Gewalt geprägten Leben. Gerade dem Prozess der psychischen Abhängigkeit, die mit den Jahren eintritt, widmet Rowan Coleman in ihrem Buch viel Platz: Dass es eben nicht damit getan ist, die Klinke in die Hand zu nehmen und zu gehen. Dass es Türen im Kopf gibt, die erst geöffnet werden müssen. Dies braucht Zeit, Mut und unbändigen Willen. Und in Roses Fall eine kleine Postkarte, die ihr vor Jahren von einem Mann geschrieben wurde, den sie gar nicht näher kennengelernt hat, und der doch ihr symbolischer Leuchtturm wurde; der ihr nach jahrelangem Ausharren in einer schrecklichen Ehe jeden Tag ein kleines Bisschen mehr der notwendigen Kraft gab, die sie brauchte, um aus ihrem Käfig auszubrechen.
Umso schöner ist es im Laufe des Buches zu beobachten, wie Rose nach und nach begreift, dass auch ihre Sehnsucht nach einem Mann, den sie eigentlich niemals richtig kannte, nichts anderes ist, als ihre Sehnsucht nach einem eigenständigen und glücklichen Leben.
„Ich habe keine Ahnung, was als Nächstes passierten wird, aber ich weiß, dass das hier etwas zu bedeuten haben muss, und wenn nicht, dann muss ich eben dafür sorgen, dass es etwas bedeutet.“
Allerlei interessante und liebenswerte Menschen begegnen Rose auf ihrem Weg in die persönliche Freiheit: Gleich nach ihrer Ankunft in der kleinen Pension der poltrigen, aber herrlich liebenswerten Jenny, begegnet Rose unverhofft ihrem Vater wieder. Und natürlich Frasier, dem Mann, mit dem damals alles anfing. Shona, die ein Faible für offenherzige Kleidung hat, aber gleichzeitig eine hingebungsvolle Mutter ist.
Überhaupt gefällt mir das an diesem Buch sehr gut: Fast alle Protagonisten scheinen auf den ersten Blick bekannten Stereotypen zu entsprechen. Schaut man aber etwas genauer hin, erfüllt keiner seine Schublade zur Gänze. Rowan Coleman beschreibt damit auf ganz authentische Weise, dass kaum jemand so ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Dass es Motivationen gibt, die uns Menschen einfach nicht anzusehen sind und dass es nicht immer niedrige Beweggründe sein müssen, die uns antreiben, sondern vielmehr die Angst, den ersten Schritt in eine neue Zukunft zu tun.
Rose lässt sich von den vielen Rückschlägen in ihrem Leben nicht niederdrücken. Trotz aller Vorkommnisse hat sie sich die Eigenschaft behalten, sich nicht mit Zorn und Wut zu belasten. Sie erkennt an, dass sie hart an sich arbeiten muss, um die Fesseln ihrer Vergangenheit abzulegen, dass sie „angeschlagene Ware“ ist. Aber nachdem sie anerkennt, schwach gewesen zu sein, kann sie zum ersten Mal seit Langem ihre innere Stärke abrufen. Auch sie ist ein Charakter, der voller angenehm menschlicher Wiedersprüche steckt.
Roses Figur könnte für manche Frauen ein authentisches Vorbild sein
Die beste und nachhaltigste Reisegefährtin ist aber natürlich Roses kleine Tochter Maddie, die mit ihren sieben Jahren schon einige Narben auf der Seele hat. Auch Maddies Person hat sich Autorin Rowan Coleman mit herzlicher Hingabe gewidmet, ist sie doch nur Sinnbild für die vielen Kinder, die in Haushalten groß werden müssen, die von häuslicher Gewalt geprägt sind.
Maddie ist der Hauptgrund, warum Rose irgendwann der Kragen platzt und sie ihren Mann und ihr bisheriges Leben hinter sich lassen möchte. Mir gefällt allerdings sehr gut, dass dies nicht lange so bleibt. Rose begreift sehr bald, dass es wichtig ist, dass sie wieder einen Zugang zu sich selbst und ihren Gefühlen findet. Dass nur das Akzeptieren ihrer eigenen Persönlichkeit und die Liebe zu sich selbst bewirken können, dass sie Maddie eine gute Mutter sein kann. Sie durchschaut, dass nur sie selbst Akzente in ihrem eigenen Leben setzen kann. Dass es rein gar nichts mit Egoismus zu tun hat, sich selbst der oder die Nächste sein zu wollen. Meiner Meinung nach könnte sie ein gutes Vorbild für viele Frauen sein, die sich schon mal in einer ähnlichen Situation befanden.
Was ich von diesem Roman halte, verrate ich hier
Rowan Coleman gelingt es, ein sehr sensibles, aber ungemein wichtiges Thema in Romanform zu verpacken. Alle Figuren, die einem begegnen, sind liebevoll gezeichnet und authentisch dargestellt. Die innere Zerrissenheit von Rose, die die ersten Schritte auf ihrem Weg in ein neues Leben macht, ist von der Autorin sehr gut recherchiert worden und sie stellt sie mit eindrucksvoller Einfühlsamkeit dar. Man spürt, dass Rowan Coleman mit vielen betroffenen Frauen gesprochen hat. Es ist ein schöner Roman über Freundschaft, Liebe und die Fähigkeit, zu verzeihen. Dass es nicht immer bedeutet, dass man schwach ist, wenn man gerade mal nicht stark sein kann. Dass es, wie Rose schon sagt, nie zu spät ist, um mit dem Glücklichsein anzufangen.