Emma Andreas ist die „woke“ Antiheldin von „Erdling“
Sie ist genderfluid, Marx-Verehrerin und vergöttert den fiktiven afroamerikanischen Privatdetektiv John Shaft. Auch ihr Online-Image spricht Bände: Emma Andreas Erdling betreibt ein – nicht weniger fiktives – Privatdetektivbüro und suhlt sich in der Welt der Influencer, was sie sich auf Kosten ihrer kranken Großmutter leisten kann. Im Jahre 2024 sind Identitäten ohnehin zu „sozialen Konstrukten“ – auch bekannt als Lügen – verkommen. Nur zu blöd, dass Emmas virtuell-ideologische Fassade zu bröckeln beginnt, als sie während des Tragens einer Gesichtsmaske ihr Idol imitiert, des Blackfacings bezichtigt wird und an Followern einbüßt.
Ist Sarah Wagenknecht in „Erdling“ ein „roter“ Hering?
Gerade während dieser Existenzkrise wird Emma von niemand geringerem als dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine beauftragt, seine verschollene Frau Sarah Wagenknecht zu finden. Emma Braslavsky spielt auf den Austritt der Politikerin aus „Die Linke“ und die Gründung ihrer eigenen Partei an. Als schwarzes Schaf hatte Wagenknecht die linken Hardliner mit Reformvorschlägen in Sachen Migration, Umwelt oder Ukraine-Politik vor den Kopf gestoßen. Im Roman eskaliert dies sogar bis zu dem Ausmaß, dass Wagenknecht ihre eigene Ehe ad acta legt und andere Universen und Spezien erkundet. „Erdling“ handelt aber weniger von Sarah Wagenknecht an sich. Vielmehr arbeitet sich Emma Braslavsky an ihr ab, um den mentalen Reifungsprozess der Hauptfigur und die Revision ihres eigenen Weltbildes – und somit auch jenes der Politikerin – zu illustrieren.
Der „deutsche Oscar Wilde“ ist mit von der Partie
Dies geschieht, indem Emma von einem Wurmloch ins andere gleitet und sich bei ihrem Parforceritt durch unterschiedliche Zeitepochen Ratschläge von Persönlichkeiten holt, die das heutige Deutschland geprägt haben. Emma Braslavsky huldigt insbesondere dem „deutschen Oscar Wilde“ und dekadenten Verfasser des Alraunen-Märchens Hanns Heinz Ewers, dessen Karriere zwischen Philosemitismus und Hitler-Propaganda sie samt ihren Ungereimtheiten akribisch nachzeichnet. Auch wenn z. B. Johannes Keplers Mond, die Venus oder der Mars bereist werden, verlaufen die Übergänge von einem Zeitabschnitt in den anderen angenehm unterschwellig, ja beinahe berieselnd. Dabei mildern Drogenparties sowie von Sexeskapaden begleitete philosophische Diskurse das Scifi-Element, entzaubern es regelrecht und verleihen dem Roman einen coming-of-age-Anstrich.
Emma Braslavskys „Erdling“ neigt zur unbeholfenen Groteske
An einigen Stellen hadert der Leser dennoch, wenn Emma Braslavsky den Ton eines Professorenromans anschlägt und die Lektüre durch intellektuelle Redundanz und Name-Dropping ins Stocken gerät. Beim Einführen in Geheimgesellschaften sowie in Gedankenexperimente von der Relativitätstheorie bis zu Paralleluniversen will man nicht kontinuierlich belehrt werden oder Emma, ihrer Großtante – einer ehemaligen Uniprofessorin – und Emmas nur schemenhaft umrissenen „Schutzengel“ Angelika bei ihrem quasi-sokratischen Frage-Antwort-Spiel folgen. Emma Braslavsky versucht nach solchen Episoden das Eis zu brechen, indem sie aufs Groteske setzt. Das kippt oft unbeholfen ins andere Extrem: Etwa, wenn Ewers den Geruch seines Glieds zur künstlerischen Inspirationsquelle stilisiert oder Emma ihren Intimbereich versehentlich verharzt.
Zwischen tatsächlichen und mentalen Reisen kann nicht immer unterschieden werden. Wenn Metaphern wie „eine Mauer um sich haben“ ausbuchstabiert werden und die mentale Blockade der Heldin ihr den Weg auf einer Straße versperrt, nimmt die Handlung eine hochgradige Plastizität an.
In ihrem Roman „Erdling“ deckt Emma Braslavsky Heucheleien auf
Trotz mancher Schönheitsfehler amüsiert der beißende Ton, mit dem die Autorin zeitgenössische Heucheleien entlarvt. Am gelungensten offenbart sich der Roman da, wo literarische Persönlichkeiten wie Thomas Mann oder Franz Werfel ohne Selbstgefälligkeit oder geistige Aufblähungsversuche pikante Wortgefechte antreten.