ISBN 978-3-257-07030-9

ca. 256 Seiten

€ 22,00

Vom Unglück, frei zu sein, von einer Frau, die sich entscheiden muss, und von einem erfolglosen Drehbuchautor auf Zeitreise handeln Benedict Wells‘ Kurzgeschichten in „Die Wahrheit über das Lügen“.

„Die Wahrheit über das Lügen“ ist Benedict Wells‘ gefeierter Kurzgeschichten-Band

Benedict Wells

Die Wahrheit über das Lügen – Zehn Geschichten

Leseprobe


»Der Mensch ist ein Genie, wenn er träumt.«
– Akira Kurosawa


Hunderttausend
(2014)

Manche Menschen sterben, ohne zu begreifen, dass sie
sterben müssen. Sein Vater zum
Beispiel hatte sein Leben lang alles verdrängt, die
Katastrophe vor dreißig Jahren genauso wie sein
fortschreitendes Alter und den Tod. Wenn es irgendwann
so weit wäre, würde er ohne jede Angst
aus der Tür gehen und vielleicht noch einen Scherz
machen. Daniel dagegen war in diesem Punkt immer
anders gewesen. Und im Grunde war das schon
das ganze Problem.
Er stand vor der Garage, sie wollten gleich losfahren.
Sein Vater wohnte in einem hochgelegenen
Dorf bei Zürich. Hier oben gab es kaum Nachbarn,
nur ein paar Bauernhöfe. Das moderne Haus am
Hang hatte sein Vater selbst entworfen, was gut zu
ihm passte: Er hatte immer gern in seiner Phantasie
gelebt.
Die morgendliche Sonne ergoss sich über das
Tal, Daniel blickte in die Ferne. Wie bei all seinen
Besuchen in der Schweiz fühlte er sich schwerfällig,
wie unter Wasser. Die Vergangenheit zerrte an ihm,
aber auch diesmal gab es keine Aussprache. Gestern war
die Geburtstagsparty seines Vaters gewesen, heute war
der Abend schon verplant, und morgen würde er nach
England zurückfliegen. Wenn es
noch eine letzte Chance gab, dann jetzt auf der
Fahrt.
Daniel beugte sich über die Haube des Oldtimers.
Im polierten Lack tauchte ein verhuschter
Mann Ende dreißig mit großen, melancholischen
Augen auf. Eine Weile starrte er auf das metallene
Ebenbild, dann hörte er Schritte und richtete sich
auf.
Sylvie, die zweite Frau seines Vaters, kam zum
Wagen und legte einen Korb mit Sandwichs und
Obst auf die Rückbank. »Proviant für euch.« Sie
bemerkte seinen Blick. »Bist du okay?«, fragte sie
und strich ihm sanft über den Arm. »Das wird alles
wieder.«
Daniel nickte. Vor kurzem hatte sich seine
Freundin von ihm getrennt. Er war noch immer
angeschlagen, und er wusste, dass Sylvie ihn verstand.
Das hatte sie immer.
»Jetzt schaut euch das nur an!«
Sein Vater trat aus dem Haus. Er deutete mit
einer Begeisterung auf das sonnendurchflutete Tal,
als habe er diesen Anblick soeben fertiggemalt. Die
gestrige Nacht war nicht spurlos an ihm vorübergegangen,
er wirkte müde, doch ansonsten war er
gut in Schuss: dichtes graues Haar, die Haut gegerbt, aber glatt,
dazu randlose Brille und ein Sakko
über dem blütenweißen Hemd.
Daniel dachte an die Geburtstagsparty mit unzähligen Gästen,
eingeflogenem Koch und SwingBand. Im Mittelpunkt sein Vater,
der achtzig geworden war. Wie immer hatte er gutgelaunt Freunde
und Arbeitskollegen unterhalten, aber genau dieser
joviale Plauderton war es auch, hinter dem er sich
versteckte. Sein Vater konnte eloquent über Kunst,
Politik oder auch simplen Tratsch reden und gab
dabei jedem Zuhörer das Gefühl, sich nur an ihn zu
wenden. In Wahrheit aber war es der immer gleiche
belanglose Gesprächsteppich, den er für Arbeitskollegen
ebenso ausrollte wie für seinen Sohn.
Sie setzten sich in den Oldtimer, einen dunkelgrünen
1961er Austin Healey. Das Armaturenbrett
glänzte in der Sonne, die beigen Ledersitze waren
angenehm weich. Der Vater sah ihn an. »Bereit für
den großen Augenblick?«
Daniel nickte und musste ein Seufzen unterdrücken.
Der große Augenblick, das war diese bescheuerte Zahl,
die ihn schon seit der Kindheit verfolgte.
Angefangen hatte es auf ihrer ersten Fahrt mit
dem Austin Healey. »Jetzt hat er fast vierzigtausend
Kilometer, Dani«, hatte sein Vater gesagt. »Stell dir
den Tag vor, wenn er 100000 km hat. Was meinst
du, wie alt wir dann sind?«
»Hundert«, hatte Daniel freiheraus geantwortet.
Damals war er neun gewesen.
»Na, dann sollten wir ihn öfter fahren, damit wir
es noch erleben.«
Seitdem war es dauernd um die Zahl mit den fünf
Nullen gegangen, als wäre sie das einzige Ziel im
Leben. Anfangs hatte Daniel noch kleinste
Veränderungen am Tachostand mitverfolgen können,
aber im Laufe der Jahre waren die Sprünge zwischen
den Zahlen immer größer geworden – und
seine Besuche immer seltener.
Dabei war es gar nicht das ewige Gerede um den
Tachostand, das ihn so störte. Es war das, worüber
sie nicht sprachen. Sein Vater hatte es einfach nie
gekonnt. Er war damals nach der Beerdigung ein
paar Wochen apathisch herumgesessen, dann hatte
ihm ein Kollege von dem ramponierten, fast verrosteten
Austin Healey erzählt. Obwohl er kaum etwas von Autos
verstanden hatte, hatte sein Vater
ihn gekauft und mit Hilfe eines Mechanikers in mühevoller
Arbeit restauriert. Das alles war mittlerweile Jahrzehnte her,
und längst war der britische
Oldtimer zu einer Art Familienmitglied geworden.

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ISBN 978-3-257-07030-9

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