Warum nur diese immer wiederkehrende Flucht an den Schreibtisch?
Es muss raus. Manchmal muss es einfach raus, dann rufen Schreibtischstuhl und Tastatur und ich kann nichts dagegen tun, egal was der Alltag dazu sagt. Das führt schon mal zu Diskussionen, für die ich mir in diesen Momenten keine Zeit nehmen möchte, es aber dennoch tue, allein nur um später zurückgezogen und in Ruhe schreiben zu können, mit der Hoffnung, dass dann noch immer die Gedanken und Worte präsent sind, die mich zuvor gedrängt hatten. Für mich hat Schreiben etwas Therapeutisches und dadurch wird es manchmal auch zwanghaft. Lust und Schmerz, zwei Seiten einer Medaille. Aber, was soll ich tun. Ich lerne halt viel über mich, wenn ich im Nachhinein, die Ergüsse auf dem Papier nochmals lese und einordne.
Wie entsteht eine Geschichte oder auch ein Roman?
Die zu Papier gewordenen Ergüsse wollen verarbeitet werden und, weil sie ungefiltert aus mir herauskamen, benötige ich einen gehörigen Abstand zu ihnen und verfremde das Geschriebene immer weiter und weiter bis eine Essenz vorhanden ist, die nur noch ICH mit meiner Autobiografie verbinden kann. Verständlich? Nein? Dann ein Beispiel: Die Entstehungsgeschichte des Romans „Innere Schreie“. In den Jahren 2017 bis 2020 pflegte ich meine Eltern, die in ihrem eigenen Haus wohnten, und nicht in eine Pflegeeinrichtung wollten, was nicht ganz so einfach war. Meine Mutter litt unter einer starken Depression mit autoaggressiven Zügen, mein Vater war ein impulsiver Alkoholiker, der kaum Widerworte ertrug. Ich stand massiv unter Stress und konnte, in den Augen meiner Eltern, kaum etwas richtig machen.
In dieser Zeit beschloss ich, meine Eltern zu ermorden
In dieser Zeit beschloss ich, meine Eltern zu ermorden … natürlich nur am Computer. Das Aufschreiben kostete mich mehrere Tage und einen immensen Kampf mit meinem aufkeimenden schlechten Gewissen. Irgendwann war es vollbracht, der Doppelmord durchgeplant und vollführt. Ich fühlte mich freier und doch ging es mir sehr nahe. Ich überarbeitete den Text, kürzte, verfremdete immer wieder und wieder, bis lediglich eine halbe Seite übrig blieb. Diesen Text nutzte ich als Traumsequenz und Einstieg in den Roman „Innere Schreie“, der dann 2020 beim mainbook-Verlag Frankfurt erschienen ist. Die Geschichte spielt 2007: Neubeginn – Kriminalkommissar Benjamin Dobermanns erster Fall nach seiner Ausbildung an der Polizeihochschule Wiesbaden. Ein Doppelmord im Paulusviertel, einer Darmstädter Villengegend, verwoben in einer komplexen Geschichte. Benjamin auf dem Weg zu sich selbst.
Fünf Dobermann-Krimis – „abgedrückt“ handelt von Drogen und Koma
Mittlerweile sind fünf Dobermann-Krimis erschienen. Die ersten drei erzählen von Lothar-Ludwig Dobermann, dem Adoptivvater des jetzt ermittelnden Benjamin. Dabei steht in „abgedrückt“ (2013) meine Studentenzeit mit WG- und Drogenerfahrungen im Vordergrund, aber auch der Umgang mit der Wahrheit, was ist real und was nicht? So erzählt der Protagonist Klaus Keim seine Geschichte innerhalb der Zeit, in der er eigentlich im städtischen Klinikum im Koma liegt. Darüber hinaus geht es um die verschiedenen Realitätswahrnehmungen der Generationen.
„weißkalt“ erzählt davon, wie sich die Menschheit selbst zerstört
In „weißkalt“ (2015) beinhalten die Ereignisse die verschiedenen Möglichkeiten der Menschen, sich psychisch und physisch zu zerstören, Umweltverschmutzung und Klimawandel spielen ebenso eine Rolle wie die Verrohung einzelner Menschen. Darüber hinaus dreht sich die Geschichte nicht nur um einen depressiven Klimaforscher, sondern auch um die Aufklärung von vier Morden, tiefen Verletzungen, exzessiv gelebter Hörigkeit und die unendliche Kreativität einer psychisch belasteten Frau, die alles daransetzt, Männer zu zerstören. Und natürlich wieder um die verschiedenen Realitätswahrnehmungen und in „weißkalt“ kann man das Ende auf zwei verschiedenen Weisen lesen (Realität oder Traum). Während in dem Roman „Tage, die alles verändern“ (2017) die Familie zum Thema wird, Tabus und natürlich auch Tabubrüche und was sich daraus entwickeln kann. Todessehnsüchte, aber auch der kreative Umgang damit und immer wieder das Verhältnis zwischen Söhnen und ihren Müttern.
Der neueste Dobermann-Krimi heißt „Der Mäzen“
Der neueste Dobermann-Krimi „Der Mäzen“ erscheint 2023. Hierin spielen Vergänglichkeit, der Versuch, den Tod zu überwinden eine Rolle und es geht um das Mysterium der Liebe – hochtrabend und dennoch bodenständig spannend. Die Geschichte handelt von der Fähigkeit einiger Menschen, andere zu manipulieren. Verschwörungstheoretische Fantasien spielen eine Rolle und auch hier wieder das Spiel mit den verschiedenen Realitäten der Protagonisten. Was ist wahr und was ist Einbildung?
Eine andere Seite – ich schreibe auch gerne Kurzgeschichten
Eine andere Seite meiner Schreibe manifestiert sich in Kurzgeschichten. Diese haben gleich mehrere große Vorteile: Sie sind schnell geschrieben, es treten weniger logische Fehler auf, weil diese auf drei Seiten kaum möglich sind und die Geschichten kann ich bei Lesungen besser einsetzen, weil das Publikum den Anfang und das Ende mitbekommt. Aber es gibt auch einen Nachteil: Die Verdichtung. Alles Wichtige muss in wenigen Sätzen erzählt werden. Nur, was ist wichtig und was unwichtig, gerade bei der Beschreibung der Protagonisten? Das kann beim Schreiben schon mal zum Haareraufen und Füllen des Papierkorbs führen, den ich vorsorglich direkt neben dem Drucker aufgestellt habe. Üben konnte ich das Schreiben von kurzen Geschichten in der Zeit von 1997 bis 2008, in der ich jeden Monat einen Kurzkrimi für ein Darmstädter Monatsheft verfassen durfte bis irgendwann der einhundertfünfundzwanzigste vollendet war und ich mich Schritt für Schritt auf den Weg machte, um meinen ersten Roman zu verfassen.
Das Einsame, das Gemeinsame und was hilft?
Der kreative Prozess beim Erschaffen einer Geschichte mag befreiend sein und sich leicht anfühlen. Um aus dem Geschriebenen allerdings eine Geschichte werden zu lassen, bedarf es vieler Stunden kräftezehrender Arbeit. Verschärfend kommt hinzu, dass ich in dieser Zeit allein mit mir und meinen Fantasien bin und mich tatsächlich auch häufig einsam fühle.
Was mir half – die Darmstädter Textwerkstatt
Lange Jahre hat mir der Austausch in der Darmstädter „Textwerkstatt“ geholfen: „Seit 1997 wird unter Leitung des Schriftstellers Kurt Drawert die ‚Darmstädter Textwerkstatt‘ durchgeführt, ein Forum für junge Literatur, das inzwischen zu einer anerkannten Instanz der Nachwuchsförderung im Rhein/Main-Gebiet wurde und auch überregional frequentiert ist. Ziel der fortlaufenden Seminare und Autor*innenbetreuung ist es, den jungen oder publizistisch noch unerfahrenen Schreibenden einen vor den Erwartungen der Öffentlichkeit geschützten Raum des Dialogs anzubieten, ein Experimentierfeld der Verständigungen und der kritischen Reflexion.“ Ich habe mich nicht allein gelassen gefühlt und immer wieder Kraft tanken können, um den eremitischen Schreibprozess und vor allem den immer wiederkehrenden Überarbeitungsprozess nicht nur ertragen, sondern ihm auch etwas Positives abgewinnen zu können.
Lesungen sind für mich ein wichtiges Experimentierfeld
Ein weiteres Experimentierfeld, um meine Texte auszuprobieren, sind Lesungen. Das Publikum kann gnadenlos sein. Hierzu eine Anekdote: Als ich im Herbst 2015 im Weiterstädter Medienschiff aus den ersten beiden Dobermann-Fällen „abgedrückt“ und „weißkalt“ las, kamen in der Pause drei Frauen auf mich zu gestürmt und teilten mir mit, sie würden bei einer großen Bank arbeiten und würden sich deswegen gut mit Zahlen auskennen. Ich hätte vorgelesen, dass der Hauptkommissar Lothar Ludwig Dobermann erst 1986 seine Veronika kennen- und lieben gelernt habe. Zuvor habe er keine Frauen gehabt. Später hätte ich dann vorgelesen, dass Dobermanns Sohn Benjamin in „weißkalt“, der 2011 spielt, 26 Jahre alt wäre.
Man muss auch Kritik annehmen können
Ich hörte zu und verstand erst einmal nicht, bis mir auf die Sprünge geholfen wurde: Somit sei Benjamin ein Jahr vor dem Kennenlernen von Lothar-Ludwig und Veronika geboren worden, folglich könne Benjamin nicht Dobermanns Sohn sein. Ich musste den Frauen von der Bank Recht geben und versprach, in einem Jahr wiederzukommen, um das neue Buch „Tage, die alles verändern“, das ich gerade schrieb, vorzustellen. Darin würden dann die Familienverhältnisse aufgeklärt werden. Somit hatte ich an diesem Abend nicht nur sehr interessiert zuhörendes Publikum gehabt, sondern auch eine neue Aufgabe erhalten. Ein Jahr später erfüllte ich mein Versprechen.
Ich arbeite für meine Lesungen mit einem Musiker zusammen
Reine Lesungen können aber auch langweilig sein. So entschied ich mich schon 2014 besondere musikalische Krimi-Lesungen anzubieten. Gemeinsam mit dem Walldorfer Liedermacher, Harald Pons, sind wir in und um Darmstadt auf den verschiedenen Bühnen zu sehen und zu hören. Unser Programm hat immer denselben Namen: „Verrückte Welten“, aber immer unterschiedliche Inhalte.
Unser Format
Ein Darmstädter Sozialarbeiter nutzt die dunkle Seite der menschlichen Kreativität, um daraus Geschichten zu entwickeln. Ein Walldorfer Rechtsanwalt und Liedermacher singt über das Gute im Menschen. Verrückte Welten treffen aufeinander, verweben sich und bereiten den Nährboden für einen tiefsinnig, amüsanten Abend. Abwechselnd werden Darmstädter Kurzkrimis und Textpassagen aus den „Dobermann-Romanen“ gelesen und der Liedermacher Harald Pons spielt Passendes dazu.
Unser Motto
Die Welt um uns herum wird immer verrückter und so lohnt es, einen Abend lang aus all den Verrücktheiten des eigenen Lebens auszusteigen und sich die Verrücktheiten aus der Feder von Andreas Roß und Harald Pons anzuhören.
Verrückt wird es allemal und natürlich auch emotional, tiefsinnig, lustig, grauslich, also einfach nur: schaurig – schön.
Und das Wichtigste zum Schluss – die Arbeit mit dem Lektor
Im letzten Abschnitt wird das Manuskript dann in regem Austausch mit dem Lektor aufpoliert. Ich kann meinen Text noch so gut finden und der Meinung sein, ich hätte den nötigen Abstand zu ihm, um das beurteilen zu können, meist ist dies allerdings nicht der Fall. Mit dem Lektor kann ich nicht nur meine eigene Schreibe reflektieren und an seinen Kritikpunkten wachsen, sondern erlebe auch immer wieder, dass meine Manuskripte durch die eine oder andere Verdichtung besser und spannender werden. Dafür bin ich meinem Verlag dankbar.
Mein Traum
Wenn ich mal so oft gelesen werde, dass die großen Verlage auf mich aufmerksam werden und mir Angebote machen, die ich nicht ablehnen kann, dann möchte ich – ähnlich wie Sebastian Fitzek – einen “Brainstormer” an meiner Seite haben. Dies ist ein Mensch, der vom Verlag bezahlt, ein regelmäßiges Brainstorming mit mir vollführt. Tja, dann hätte ich es wohl geschafft und der einsame Schreibprozess könnte etwas einfacher werden.
Der Inhalt von Andreas Roß‘ Krimi „Der Mäzen“ – ein Dobermann-Fall
Eine erste Leiche, einbalsamiert und in einem VW-Käfer im Bessunger Wald aufgebahrt. Einige Verdächtige und ein ratloser Kommissar, der mit sich selbst zu kämpfen hat. Ein vom Leben gezeichneter Informatiker, der dem Alkohol verfallen ist und in einem Zirkuswagen haust. Ein Unternehmersprössling von Beruf „Sohn“. Ein „Schwätzer“ und zu guter Letzt: Der Mäzen, der seine Vergänglichkeit verneint und unsterblich werden will. Er mordet dafür und lässt seinen Handlanger in der alten Kunst der Einbalsamierung Erfahrung sammeln.
Der junge Kommissar macht sich gemeinsam mit einem Kollegen und seiner neuen Liebe ans Werk. Bald schon gibt es weitere Opfer. Skurrile Gestalten führen die Kommissare an der Nase herum, bedrohen sie mit dem Tode und bringen sie an ihre Grenzen. Sie werden in ein perfides Spiel verwickelt. Können sie noch selbst entscheiden oder sind auch sie fremdbestimmt? Der Showdown auf dem Luisenplatz wird alles entscheiden.
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