Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen
Herr Hacke, Ihr neues Buch kreist ums Anständigsein – ein Thema, das zunächst einmal 50er-Jahre-Assoziationen weckt und furchtbar spießig klingt. Warum ist es aktueller denn je?
Natürlich klingt das für viele erst mal danach, für mich war das auch so. Das geht ja sogar bis hin zu Heinrich Himmler, der seinen SS-Männern den Anstand predigte. Aber wenn man sich ein wenig mit dem Begriff beschäftigt, entdeckt man, dass viele Autoren mit ihm ganz anders umgegangen sind, ob das jetzt der berühmte Freiherr Knigge war, der ja keineswegs der Benimm-Onkel war, für den ihn viele halten, sondern einer, der Anstand als menschliche Grundhaltung verstand. Und genau das taten auch Autoren wie Kästner, Fallada, Camus. Man kommt von hier zu einem Verständnis von Anstand als einem grundlegenden Respekt gegenüber anderen Menschen und landet bei Werten wie Fairness, Wohlwollen, Interesse an anderen. Und es ist nicht zu übersehen, wie aktuell das ist, ob wir von Donald Trump oder manchen AfD-Politikern reden, von dem Umgangston, der im Internet herrscht oder von dem, was jeder einfach Polizist oder Bahnschaffner an Vorfällen in seinem Alltag zu berichten hat. Überall gibt es eine Tendenz zu einer gewissen Verrohung.
Seit wann beobachten Sie diese Tendenz?
Ich habe mich schon länger mit dem Thema beschäftigt, aber der Auslöser, dieses Buch zu schreiben, war die Wahl von Donald Trump. Wenn ein so niederträchtiger Mensch in eines der wichtigsten Ämter der Welt gewählt wird, dann werden mit Sicherheit Dinge salonfähig, die es nicht sein sollten, Lüge, Niedertracht, Rassismus, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Worin sehen Sie die Ursachen in dem Phänomen, dass heute Anständige oftmals gegenüber dem Rücksichtslosen den Kürzeren zieht?
Tun sie das wirklich? Unsere Gesellschaft besteht in der großen Mehrheit aus sehr anständigen Menschen. Und die Fähigkeiten, die sie haben, sind zum Beispiel in vielen Unternehmen sehr gefragt und ja auch unerlässlich. Das ist eine gewissermaßen sehr leise Kraft, die aber sehr stark ist. Und dieser Energie müsste man sich vielleicht doch ein wenig mehr bewusst werden, als es heute der Fall ist.
„Wie wäre es mit dem in Vergessenheit geratenen Gedanken“, formulieren Sie an einer Stelle Ihres Buchs, „dass man einer Gesellschaft nur angehören kann, wenn man ein Opfer für sie zu bringen bereit ist?“ Opfer für die Gemeinschaft zu bringen, ein Ehrenamt auszuüben, wie es so schön altmodisch heißt, ist nicht mehr „in“. Was können wir tun?
Das ist ganz leicht, und sehr viele Menschen tun das doch auch. Es ist nur wenig die Rede davon, das ist ja eines der Probleme. Die anständigen Menschen machen halt oft wenig Gewese um sich. Was ich aber schon gemeint habe, das ist: Ich fände es gut, wenn jeder von uns für eine gewisse Zeit im Leben als junger Mensch der Gemeinschaft zur Verfügung stehen müsste, so eine Art verpflichtender Sozialdienst. Warum redet darüber kein Mensch? Ich war nie ein Fan des Wehrdienstes, aber mit ihm war doch genau dieser Gedanke auch verbunden. Und das ist einfach abgeschafft worden. Über Ersatz hat niemand groß ein Wort verloren.
Sie schreiben, dass wir getrieben sind von der technischen Entwicklung, von einer Nötigung zu ständiger Selbstdarstellung. Dass sie sich ständig zu präsentieren haben, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden, empfinden viele Menschen als unangenehm. Meinen Sie, dieses Rad lässt sich noch zurückdrehen? Wie?
Wir befinden uns ja inmitten einer Revolution, ob wir nun von der Globalisierung sprechen oder von unseren Kommunikationsmitteln, die sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert haben und dies noch tun. Das ist sozusagen über uns gekommen, ohne dass wir es hätten beeinflussen können. Und man muss einer Gesellschaft wohl zugute halten, dass sie den Umgang mit solchen neuen Medien erst einmal lernen muss. Aber das muss man natürlich irgendwann auch wollen und tun. Ich glaube schon, dass sich eine Gesellschaft die Macht über ihre sozialen Medien zurückholen muss. Wenn zum Beispiel Facebook nicht freiwillig gegen den dort oft dominierenden Hass und die viehische Brutalität vorgeht, dann muss man die Firma eben dazu zwingen. Und dieser Prozess hat ja begonnen.
Einen kleinen, interessanten Exkurs widmen Sie der Dummheit und Ihrem Verhältnis zum Anstand. In diesem Zusammenhang zitieren Sie Musil und erinnern an Pegida und zwei IS-Männer, die mit einem Presslufthammer ein antikes Denkmal zertrümmern. Was hat Dummheit mit Anstand zu tun?
Robert Musil hat einmal einen großen Aufsatz über die Dummheit geschrieben, die für ihn nicht so sehr eine Sache der Intelligenz war (das ist sie schon auch), sondern auch ein Seelenzustand, eine gewisse Rohheit des Gemüts. In diesem Sinn können sehr intelligente Menschen dumm sein. Und dumme Menschen auch sehr anständig.
Wie machen Sie es, über derlei Auswüchse nicht wütend zu werden?
Ich bin ja wütend. Aber gerade jemand, der wütend ist, sollte über die Formen nachdenken, in denen er dem Ausdruck geben will. Geschrei oder sogar Gewalt hilft nicht, das ist ja genau die Form, mit der jene, die ich für unanständig halte, am besten umgehen können. Deshalb ist es doch so wichtig, an der eigenen Haltung zu arbeiten.
Faszinierend ist, dass es Ihnen gelingt, lehrreich über dieses Thema zu schreiben, ohne mit dem Zeigefinger zu wedeln. Man fühlt sich als Leser dazu eingeladen, gemeinsam mit Ihnen über den Anstand nachzudenken. War Ihnen zu Beginn Ihrer Schreibarbeit gleich die Tonalität bewusst, in der Sie dieses Buch schreiben würden? Das ist ja eine Gratwanderung …
Das gehört ja zum Wichtigsten beim Schreiben, diesen Ton zu finden. Da mir das Belehrende und Predigende eh nicht so liegt, war es nicht so schwer. Mir geht es um diese Suche, und darum, andere auch zu einer solchen Suche für sich selbst anzuregen. Viele Menschen wollen ja immer in einem Buch direkte Handreichungen, was soll ich tun?, erstens, zweitens, drittens. Das ist meine Sache nicht.
Sie lassen in „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ durchaus immer wieder Ihren Humor durchscheinen. Insgesamt ist es aber ein eher ernstes Buch. Auch Ihr letztes Werk, „Die Tage, die ich mit Gott verbrachte“ war bereits nachdenklicher als Ihre frühen Stücke. Liegt dies daran, dass die Zeiten ernster werden oder hat sich Ihre eigene Wahrnehmung verschoben?
Ach, mir ist einfach danach gewesen, mich mit diesen Themen zu beschäftigen, so was habe ich schon immer gemacht, es ist vielen nur nicht so aufgefallen. Ich war lange Reporter und nicht Humorist. Oder ich habe zusammen mit Giovanni di Lorenzo ein Buch über die Werte geschrieben, die unser Leben bestimmen. Humor hat übrigens durchaus viel mit ernsten Dingen zu tun, aber das ist ein anderes Thema.
In „Über den Anstand“ gibt es einen nicht näher beschriebenen Freund, mit dem sich die Erzählstimme unterhält. Früher wäre das Ihr Kühlschrank Bosch gewesen. Was ist mit ihm passiert – ist der Kühlschrankfreund in Pension, oder gar auf dem Wertstoffhof?
Also, ich habe schon noch andere Freunde als meinen Kühlschrank, den es natürlich noch gibt. Aber ich schreibe nicht mehr über den, alles hat seine Zeit. Jetzt sind andere Freunde dran.
Mit dem Freund trinkt der Erzähler, der vielleicht Axel Hacke ist, während des Buchs vier Bier. Gibt es Tage im Leben des echten Axel Hacke, an denen er sich zu einer vergleichbaren Zügellosigkeit hinreißen lässt? Welche wären das?
Also, so viel Bier trinke ich selten, da bin ich am nächsten Tag zu müde, und weil ich im Moment gerade sehr viel arbeite, kann ich mir solche Ausreißer gar nicht leisten.