Frau Dr. Stegmüller, der Titel Ihres Buchs „Gefühle surfen“ erweckt den Eindruck, wir hätten eine gewisse Kontrolle über unser Gefühlsleben. Denn der Surfer, der auf den Wellen reitet, steuert ja auch sein Board?
Genau! Der Surfer steuert oder kontrolliert das Board, aber nicht die Welle. Mit der Metapher „Gefühle surfen“ ist gemeint, dass wir unseren Emotionen mit einer akzeptierenden Haltung begegnen und uns auf Gefühlswellen aller Art erst einmal einlassen, anstatt sie zu vermeiden, zu verdrängen oder zu betäuben. Es bedeutet auch Zuversicht zu entwickeln, schmerzhafte und unangenehme Gefühlswellen erleben und überstehen zu können. Dazu brauchen wir ein Surfboard, Wissen darüber, wie man es benutzt und vor allen Dingen auch viel Übung. Mit meinem Buch möchte ich den Menschen ein Surfboard an die Hand geben, d.h. ihnen helfen, Strategien zu entwickeln mit belastenden Gefühlen, die im Leben nie ausbleiben, auf gesündere Weise umzugehen.
Wie glücklich ist ein psychisch gesunder Mensch? Oder anders gefragt: Ist ein psychisch gesunder Mensch praktisch nie unglücklich?
Psychisch gesund zu sein bedeutet keineswegs immer glücklich zu sein! Schmerzhafte, unangenehme oder belastende Gefühle gehören in gleicher Weise zum Leben, wie die guten, schönen und angenehmen. Gefühle aller Art sind zunächst einmal etwas völlig Normales und nichts Krankhaftes. Probleme oder psychische Beschwerden entstehen meistens erst dann, wenn wir beginnen ungesunde Strategien zu nutzen, um unseren Gefühlen Herr zu werden. Viele dieser Strategien sind dabei aber nur kurzfristig wirksam. Langfristig können sie massiven Schaden anrichten, wie zum Beispiel der Versuch negative Gefühle mit Alkohol oder Shopping zu betäuben, sie in sich hineinzufressen, oder sich schonungslos in die Arbeit stürzen, um nur nicht mehr fühlen zu müssen.
Welche Bedeutung haben Gefühle für unser Leben?
Gefühle sind für uns Menschen von zentraler Bedeutung. Sie machen uns aus. Durch sie fühlen wir uns lebendig, sie schaffen Nähe zwischen uns Menschen, sie bilden die Voraussetzung für Beziehungen und durch sie können wir besser einordnen, was wir erleben. Gefühle sind ständig mit dabei. Man muss sich nur mal vorstellen, wie ein Leben so ganz ohne Gefühle aussehen würde. Sie geben uns eine Orientierung im Leben, denn sie sind wie Leuchttürme oder Wegweiser zu unseren Bedürfnissen. Sie zeigen uns an, wenn etwas nicht stimmt oder wenn uns etwas fehlt. Sie können uns aber auch motivieren und die entsprechende Energie freisetzen, mit der wir das Gleichgewicht hinsichtlich unserer Bedürfnisse wiederherstellen können. Wut kann zum Beispiel ein Signal dafür sein, dass unsere Grenzen überschritten wurden und wir können die Wut-Energie nutzen, um unsere Grenzen zu verteidigen oder neu zu stecken. Jedes Gefühl hat also durchaus einen Sinn und eine Berechtigung.
Sie prägen das Wort „Emotionsangst“. Was ist das genau?
Es bedeutet Angst vor den eigenen Gefühlen zu haben. So wie wir Menschen Angst vor Spinnen, dem Autofahren oder Angst vor anderen Menschen haben können, können wir auch Angst vor unseren eigenen Gefühlen entwickeln. Das geschieht insbesondere dann, wenn Gefühle entgleisen, d.h. wenn sie immer wieder in sehr starker Form auftreten oder sehr lange anhalten. Große Wellen machen jedem Surfer Angst. Ein weiterer Grund für Emotionsangst ist aber auch, dass Gefühle in unserer Gesellschaft leider häufig als Mangel oder Schwäche angesehen werden und teilweise sogar bestraft werden. Dabei ist es so mutig und stark, sich seinen Gefühlen zu stellen und sie auch zu zeigen!
Sie schreiben, wir müssten „lernen, unseren Gefühlen auf positive Weise zu begegnen“. Wie macht man das?
In „Gefühle surfen“ beschreibe ich in sieben Schritten, wie wir einen positiveren Zugang zu unseren Gefühlen entwickeln und wie wir auch die negativen Wellen konstruktiv nutzen können, um zu einem zufriedeneren Leben zu gelangen. Es beginnt mit der Akzeptanz und dem Bewusstwerden des eigenen Fühlens, der Gewissheit, dass Gefühle nur Gefühle sind und dass sie einen Anfang und ein Ende haben. Die Wellen kommen und gehen und in vielen Fällen lassen sie sich nicht aufhalten. Es geht hauptsächlich darum sich ihnen mutig zu stellen und gelassener mit ihnen zu werden.
Für was ist Angst gut?
Angst kann zweifelsfrei großes Leid erzeugen, aber im Grunde ist sie nicht unser Feind. Sie ist evolutionsbiologisch gesehen für uns sogar überlebenswichtig. Denn sie befähigt uns in Gefahrensituationen schnell zu reagieren. Wir können die Angst auch als eine Art Helfer betrachten, der uns warnt, wenn wir in Gefahr sind und uns für kurze Zeit auch Superkräfte verleiht. Denn Angst löst eine körperliche Reaktion aus, die uns zu Kampf oder Flucht befähigt. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass man auch TROTZ Angst viele Dinge schaffen kann, wie zum Beispiel eine Prüfung absolvieren oder einen Vortrag halten. In meinem Buch versuche ich die Menschen zu ermutigen eine andere Einstellung zur Angst zu gewinnen. Wir sollten nicht mit aller Kraft versuchen die Angst zu beseitigen, sondern lernen sie auf unserem Weg mitzunehmen.
Was können wir daraus ziehen, unsere Gefühlswellen zu beobachten?
Wir können lernen zu verstehen, woher unsere Gefühle kommen und was sie uns sagen wollen. Das befähigt uns dazu freier und bewusster zu entscheiden, wie wir auf sie reagieren wollen. Damit gewinnen wir an Flexibilität im Denken, Handeln und Fühlen. Jeder kennt das, wenn man emotional oder impulsiv auf eine Situation reagiert, die Emotion einen mitreißt. Beobachten wir unsere Gefühlswellen aber erst einmal einen Moment lang, ohne gleich zu reagieren, dann verschaffen wir uns wertvolle Zeit. Denn in dieser Zeit können wir uns überlegen, wie wir tatsächlich reagieren wollen. Wir können unser Verhalten also gezielter steuern und damit aus automatischen, unbewussten Mustern ausbrechen.
Sie beschreiben in Ihrem Buch „Gefühle surfen“ auch eine wichtige Strategie …
Ja. Eine wichtige Strategie, die ich in meinem Buch beschreibe, ist es dabei seinen Gefühlen einen Namen zu geben. Das klingt vielleicht banal, aber es fällt sehr vielen Menschen schwer ihre Gefühle zu benennen. Wenn ich sagen kann, was ich fühle, zum Beispiel „ich bin gerade wütend“ oder „ich fühle mich einsam“, dann habe ich schon ein bisschen Distanz zu meinem Gefühl geschaffen und bin nicht mehr ganz im Emotionsstrudel gefangen.
Besteht nicht auch die Gefahr, dass wir von unseren Gefühlen überrollt werden? Wie finden wir die richtige Dosis zwischen Gefühle zulassen und Gefühle vermeiden?
Wir alle werden immer mal wieder von Gefühlswellen überrollt. Ich denke auch das bleibt im Leben nicht aus. Die richtige Balance zwischen Gefühlsvermeidung und Überschwemmung zu finden ist nicht leicht. Im Prinzip geht es darum, Gefühle erst einmal zuzulassen, um sie dann wieder zu begrenzen, d.h. nichtschädliche Strategien zu finden, um sie zu bewältigen. Aber nicht immer lassen sie sich regulieren oder beseitigen, manchmal ist es auch gut, sie aushalten zu lernen, also ein gewisses Durchhaltevermögen für unangenehmes Erleben aufzubauen, eine Art Emotionstoleranz zu entwickeln.
Welche Rolle spielen andere Menschen bei unserer Gefühlsregulierung?
Eine sehr wichtige! Wir sind es von klein auf gewohnt Hilfe bei der Bewältigung von Emotionen zu bekommen. Im besten Fall reagieren Eltern feinfühlig und prompt auf die Gefühlsäußerungen und Bedürfnisse ihrer Kinder. Sie trösten, ermutigen oder beruhigen das Kind. Und auch im Erwachsenenalter ist es für uns hilfreich, wenn uns jemand Verständnis entgegenbringt und uns beim Fühlen hilft. Wir Menschen lernen von Klein auf unser emotionales Erleben mit anderen abzugleichen, um unsere Welt verstehbarer zu machen. Über Gefühle zu sprechen ist daher eine sehr wirksame Form der Emotionsregulation. Es tut uns einfach gut und kann sehr heilsam sein.
Sie gehen in Ihrem Buch auch auf sogenannte „alte“ Gefühle ein. Was ist das und wie sollten wir mit ihnen umgehen?
Es gibt bestimmte Situationen, in denen wir emotional immer wieder auf die gleiche Weise reagieren. Da lohnt es sich mal zu überlegen, ob vielleicht gewisse Verletzungen oder Kränkungen aus der Vergangenheit unser Verhalten in bestimmten Situationen im Hier und Jetzt mitbestimmen. Das bedeutet konkret, dass Gefühle aus der Kindheit, wie zum Beispiel das Gefühl nicht wichtig zu sein, unser Handeln im Erwachsenenalter beeinflussen können. Diese „alten“ Gefühle lassen sich in einer Psychotherapie gut bearbeiten.
Über das „innere Kind“ wird derzeit viel gesprochen. Was ist es genau?
Das innere Kind ist eine Metapher für unser Gefühlsleben und unsere Bedürfnisse. Mit der Vorstellung des inneren Kindes kann ich meinen Emotionen ein Gesicht und einen Namen geben. Kinder sind im Übrigen gute Vorbilder für eine gesunde Emotionsregulation, denn Kinder haben noch nicht gelernt, ihre Gefühle vor anderen zu verstecken, sie sind in diesem Sinne sehr authentisch. Und wenn wir unsere Gefühle anderen zeigen, dann löst das im besten Fall beim Gegenüber auch einen Impuls aus, darauf wohlwollend zu reagieren und bei der Bewältigung der Emotionen zu helfen.
Was meinen Sie mit „Selbstmitgefühl“?
Wenn es jemandem schlecht geht, den wir mögen, dann spüren wir in der Regel Mitgefühl. Wenn es uns selbst nicht gut geht, dann sind wir oft mal unfreundlich, gemein oder manchmal sogar grausam zu uns selbst. „Reiß dich zusammen“, „Stell dich nicht so an“, das sind typische Sätze, die wir uns selbst dann sagen. Jeder sollte sich die Frage mal stellen: Warum begegne ich mir nicht mit demselben Mitgefühl, mit dem ich anderen entgegentrete? Es lohnt sich einmal auszuprobieren, was passiert, wenn man einen Tag lang liebevoll und freundlich mit sich selbst umgeht.
Auf das Selbstmitgefühl sollte die Selbstfürsorge folgen …?
Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge sollten Hand in Hand gehen. Selbstfürsorge kann man ebenso wie Selbstmitgefühl lernen und oft sind es schon die kleinen Dinge im Alltag, wie Pausen machen, genügend zu trinken oder ausreichend zu schlafen, die einen großen Effekt auf unser psychisches Wohlbefinden haben. Es gibt viele konkrete Strategien, wie man Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl in seinen Alltag integrieren kann. Einige davon habe ich in meinem Buch zusammengetragen. Die wichtigste Frage lautet dabei: Was brauche ich gerade, damit es mir gut gehen kann?
Bitte geben Sie uns noch ganz konkrete Tipps: Was, wenn wir uns richtig mies und nutzlos fühlen? Ist das denn ein Gefühl, das Sie in Ordnung finden?
Wenn mein innerer Kritiker mir sagt, dass ich nutzlos bin, dann ist es zunächst einmal nachvollziehbar und verständlich, dass ich mich traurig, niedergeschlagen oder verzweifelt fühle. Das Gefühl hat also an dieser Stelle seine Berechtigung. Jeder würde sich so fühlen, wenn er das gesagt bekäme. Die Frage ist aber, ob es in Ordnung oder in irgendeiner Weise hilfreich ist, so etwas über sich selbst zu denken? Und das ist es für mich nicht. Ich würde mich dann fragen, was es bringt, wenn ich mir selbst sage, dass ich nutzlos bin und ob das eine realistische Einschätzung meiner selbst ist. Es ist es immer wichtig, sich differenziert selbst zu betrachten. Das heißt, dass wir uns sowohl unsere Stärken bewusst machen sollten, aber uns an manchen Stellen auch eingestehen müssen, dass wir Schwächen haben, Fehler machen oder bestimmte Dinge nicht können. In meinem Buch versuche ich hier eine Anleitung zu geben, wie man eine wohlwollendere und differenzierte Haltung sich selbst gegenüber einnehmen kann, indem man ins Gespräch mit dem inneren Kritiker kommt.
Ganz schlimm ist auch das Gefühl Liebeskummer. Jeden erwischt es mal. Haben Sie ein Heilmittel?
Gegen Liebeskummer ist Selbstfürsorge die beste Medizin. Es ist erlaubt die schmerzhaften Gefühle erst einmal zuzulassen und es ist okay zu weinen, wütend zu sein oder Angst vor dem Allein sein zu haben. Diese Gefühlswellen erlebt jeder Mensch in seinem Leben und es ist gut, sie zu spüren, um die Trennung zu verarbeiten. Irgendwann ist es aber wichtig wieder am Leben teilzuhaben, für sich zu sorgen, rauszugehen, etwas zu unternehmen und vor allen Dingen nicht allein zu bleiben. Ein Gespräch mit der besten Freundin kann den Schmerz zwar nicht heilen, aber vielleicht für ein paar Momente lindern. Selbstfürsorge stärkt im Übrigen auch unseren Selbstwert und der ist bei Liebeskummer ja häufig in Mitleidenschaft gezogen.
Am Ende Ihres Buchs „Gefühle surfen“ nennen Sie einige Maßnahmen, die gut sind für unser Gefühlsleben, z.B. Achtsamkeit, Genuss und Dankbarkeit. Theoretisch ist uns klar, dass diese Dinge uns gut tun. Aber wie machen wir es praktisch?
Ganz praktisch kann man zum Beispiel täglich eine Dankbarkeitsübung machen. Denken Sie beim Einschlafen darüber nach, wofür Sie an diesem Tag dankbar waren. Das hilft erwiesenermaßen gegen Grübeln und kann so sogar Schlafstörungen entgegenwirken. Eine weitere schöne Übung finde ich ist die Achtsamkeit für positive Gefühlswellen. Versuchen Sie sich dabei zu erwischen, wenn Sie glücklich, entspannt und zufrieden sind. In der Regel achten wir ja nur auf die negativen Gefühle und oft ist uns nicht bewusst, wie häufig wir auch etwas Gutes fühlen. Es lohnt sich das auch aufzuschreiben und am Ende der Woche noch einmal zu lesen. So erhalten wir eine realistischere Sicht auf unsere Stimmungslagen, vor allem wenn wir dazu tendieren, den Fokus eher auf das Negative zu lenken.
Erlauben Sie uns noch eine letzte Frage: Wie fühlt es sich für Sie an, dieses Buch geschrieben zu haben?
Da sind ganz viele verschiedene Gefühlswellen. Ich freue mich, wenn ich Menschen mit meinem Buch helfen kann. Und ich bin sehr dankbar, dieses Projekt umgesetzt haben zu können. Beim Schreiben kamen aber auch kleinere oder größere Wellen von Angst und Stress. Ich hatte öfter mal die Befürchtung es nicht zu schaffen, es nicht gut genug zu machen oder am Ende auch dafür kritisiert zu werden. Ich versuche die Angst anzunehmen und möchte mich davon nicht lähmen lassen. Ich versuche auch zuversichtlich zu sein, dass ich mit Gefühlswellen, die zum Beispiel durch Kritik ausgelöst werden, umgehen kann. Aber die positive Resonanz, die ich bisher bekommen habe, löst in mir sehr schöne Gefühlswellen aus.
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