Frau Taschler, mit Ihrem neuen Roman „David“ gibt es einen Baum, der im Laufe der Geschichte eine wichtige Bedeutung erlangt. Für was steht der „Davidsahorn“?
Für mich ist dieser alte, mächtige Ahornbaum vor allem ein Symbol für Herkunft und Wurzeln. Und dass es gut ist, wenn man sich damit versöhnt. Man kann mit seiner Geschichte bzw. mit seinen Bedingungen – aufgrund des Elternhauses, in dem man aufwächst – nicht ständig hadern, man muss vorwärtsschauen und sich entwickeln. Man hat einen eigenen, freien Willen und ist kein Opfer der Umstände, man kann im Leben etwas erreichen, auch wenn die Startbedingungen etwas schwieriger als bei anderen waren.
Aber dafür ist Kraft und innere Stärke erforderlich …
Ja, und auch dafür steht der Baum. Ein Baum ist für mich außerdem ein Symbol für das Leben, das Wachsen, das nach oben Streben, in das Licht hinein. Ein Baum verändert sich laufend, wächst, entwickelt sich weiter, bleibt nicht stehen. Der stetige Fluss des Lebens.
Was bedeuten Ihnen Bäume?
Schon als Kind liebte ich sie, mein Vater besaß ein Sägewerk und war ein absoluter Baumfan. Unser altes, großes Haus war mit vielen Bäumen umgeben, auf denen ich herumkletterte oder unter denen ich im Gras lag, in die Blätter hochschaute, tagträumte oder las. Zwei Bäumen, einer alten riesigen Erle, sie war größer als das Haus, und einer Silberpappel gab ich Namen: Nepomuk und Jonathan. Manchmal redete ich sogar mit ihnen.
In der Schlussszene von „David“ bekommt der Baum noch einmal eine völlig neue Funktion.
Das war mir wichtig: Jan macht aus dem abgestorbenen Davidsahorn eine Bank, damit etwas zurückbleibt von ihm, und in der Schlussszene schläft Viktor auf dieser Bank ein und beginnt zu schnarchen. Daneben wird ein neues Bäumchen gepflanzt. Das Leben geht weiter, alles ist gut. Das sollte die Szene ausdrücken.
Sie erzählen eine ziemlich komplexe Geschichte, an deren Ende sich herausstellt, dass all die kleinen Geschichten, an denen Sie uns teilhaben lassen, miteinander verbunden sind. Wie gehen Sie bei der Konstruktion eines derart facettenreichen Plots vor?
Meine Geschichten gestalte ich bewusst wie Puzzleteile, die sich am Ende für die Leser zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Ich spiele gerne mit verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen und mit mehreren Charakteren; für mich ist das beim Schreiben spannender – und ich glaube auch für die Leser –, als wenn die Geschichte sich linear, eindimensional und chronologisch entwickelt.
Bevor ich zu schreiben beginne, lasse ich die Inhaltsstruktur und besonders die Charaktere in meinem Kopf heranwachsen, oft dauert das jahrelang. Die Geschichte zu „David“ geisterte drei Jahre lang in meinen Gedanken herum.
Welche Rolle spielen die Charaktere Ihrer Romane?
Sie sind mir am wichtigsten, oft entwickelt sich eine Handlungsstruktur aus der Eigenheit eines Charakters: Dieser hat ein bestimmtes Verhaltensmuster, er kann nicht aus seiner Haut, und daraus ergeben sich Reaktionen seiner Umwelt …
Das heißt aber, dass eine Figur auch die Macht hat, den Lauf der Geschichte zu ändern?
Ich weiß wohin die Reise gehen soll, habe also ein grobes Konzept im Kopf, und ein paar handschriftliche Notizen im Heft, bevor ich mit dem Schreibprozess beginne. Der ist dann immer sehr intensiv, ich ziehe das meistens innerhalb von drei bis vier Monaten durch, schreibe täglich viele Stunden. Der Feinschliff bzw. Details ergeben sich beim Schreiben selbst. Nachdem ich ein Manuskript abgegeben habe, bin ich immer ziemlich ausgebrannt und kann monatelang nicht schreiben, es geht wirklich „an die Substanz“.
Zentrales Motiv Ihres Werks ist die unfreiwillige Kinderlosigkeit einerseits und die Adoption andererseits. Sie schildern den Schmerz über das eine und die Schwierigkeiten des anderen sehr anschaulich. Haben Sie das alles erfunden oder haben Sie mit Menschen gesprochen, die diese Situationen am eigenen Leib erlebt haben?
Ich habe eine Freundin und eine Kusine, die keine Kinder bekommen konnten, und beide litten sehr darunter. Wir haben viele Gespräche darüber geführt. Meine Freundin versuchte einmal eine künstliche Befruchtung, die leider nicht klappte, meine Kusine adoptierte zwei Buben und ist sehr glücklich mit ihnen. Ich selbst bin ein Adoptivkind, kam mit acht Monaten als Pflegekind in meine Familie, die mich zwei Jahre später dann adoptierte.
Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Ich bin in einem großen, alten Haus mit sechs Geschwistern, einer Menge Tiere und vielen Büchern aufgewachsen, ich hatte eine bunte, erlebnisreiche Kindheit und bin sehr dankbar dafür. Bildung war sehr wichtig bei uns. Bei meiner leiblichen Mutter wäre meine Kindheit ganz anders verlaufen, davon bin ich überzeugt. Ich wäre sicher nicht diejenige, die ich heute bin.
Das heißt, in der Figur des Jan, eines Ihrer Protagonisten, steckt auch ein bisschen Judith Taschler?
Die irritierenden Erfahrungen, die Jan mit seiner Adoption in seiner Jugend macht – weil seine Umwelt eigenartig auf sie reagiert – sind mir nicht fremd, ich habe sie zum Teil selbst erlebt. Ansonsten ist die Handlung rein fiktiv. Ich habe teilweise eine „Gegenwelt“ zu meiner erlebten Realität kreiert: Jan liebt den Winter, den Schnee, das Schifahren, ich mag das alles nicht so gern. Jan hat eine langweilige Scheißkindheit in der Stadt, wirft das seiner Mutter einmal vor, bei mir war das genaue Gegenteil der Fall. Jan will seine leibliche Mutter nicht suchen bzw. kennenlernen, ich wollte das in der Pubertät unbedingt, für mich war das sehr wichtig.
Sie selbst haben drei Kinder. Was hätten Sie getan, wenn Sie kein Kind bekommen hätten?
Ich wollte unbedingt Kinder haben, schon als Jugendliche habe ich von einer großen Familie geträumt. Mein eigenes Nest, das ich gestalten kann. Ich hätte mir ein Leben ohne Kinder nicht vorstellen können. Wenn ich keine hätte bekommen können, hätte ich künstliche Befruchtung versucht, und wenn auch das nicht geklappt hätte, hätte ich Kinder adoptiert, das war immer mein Plan. Das Leben mit Kindern ist abwechslungsreich, herausfordernd, intensiv, spannend, ein großer Verzicht auf vieles einerseits und wunderschön andererseits.
Das Landleben schildern Sie nicht als Idylle. Eine Frau, die nicht im Schutz einer großen „Ureinwohnerfamilie“ steht, weil sie keine solche Verwandtschaft hat, spürt die Nachteile der Dorfgemeinschaft direkt. Ist das Fiktion, was Sie da beschreiben, oder sehen Sie hier tatsächlich eine Schwierigkeit des Landlebens?
Was starken und ehrlichen Rückhalt in harten Lebenssituationen betrifft – in Magdalenas Fall wäre es ja keine Kleinigkeit sondern eine Kindesaufnahme gewesen – bin ich der Meinung, dass sich dafür nur die Familie, Verwandtschaft bzw. „Sippe“ eignet. Magdalenas Großmutter war in dem Ort eine Zugezogene, wurde nie richtig heimisch und hatte keine Familie dort. Das ist der springende Punkt, deshalb fühlt sich niemand für das Kind verantwortlich. In meiner Geschichte liegt es also nicht am Landleben selbst, sondern eher an der nicht vorhandenen Verwandtschaft. In der Stadt wäre es nicht anders, vermutlich sogar noch schwieriger, aufgrund der Anonymität! Denn eigentlich empfinde ich das Landleben in vielem einfacher und entspannter als das Stadtleben, vor allem mit kleinen Kindern.
Ein junger Mann, der als Kind adoptiert wurde, kehrt in Ihrem Buch irgendwann – und ohne zu wissen, dass es seine Heimat ist – dorthin zurück. Welche Bedeutung hat Heimat für unser Leben?
Natürlich eine große! Heimat ist einerseits der Ort, in dem man aufgewachsen ist und mit dem man viele Erinnerungen verbindet. Bestimmte Gerüche, das Streiten mit den Geschwistern, der erste Freundeskreis, die aufgeschlagenen Knie als Kind, wenn man beim Radfahren stürzt, der vertraute Dialekt. Heimat prägt uns und lässt uns nicht los, wobei natürlich auch negative Erinnerungen mitschwingen können – in dem Fall sollte man sich aber versöhnen.
Haben Sie noch eine Verbindung in Ihre eigene Heimat?
Ja, ich bin in der kleinen Gemeinde Putzleinsdorf im oberösterreichischen Mühlviertel aufgewachsen und fahre immer noch gerne hin. Ich liebe meine Heimat, diese sanfte hügelige Landschaft im Mühlviertel ist so wunderschön!
Dann gibt es noch die zweite Heimat, oder eigentlich das Zuhause, der Ort, den man sich als Lebensmittelpunkt irgendwann erwählt hat und an dem man sich – hoffentlich – wohlfühlt. Ich bin vor 22 Jahren nach Innsbruck gezogen und habe mir hier mein Zuhause aufgebaut. Ich wollte weg vom Dorf und in einer Stadt leben – also wieder gegenteilig zu Jan. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an die Berge gewöhnt habe, aber mittlerweile möchte ich nicht mehr wegziehen, ich bin auch nicht der Typ, der ständig seinen Wohnort wechselt, ich kann ohne vertraute Strukturen nicht leben. Mich würde es aufreiben, meine äußeren Umstände ständig zu verändern.
Für wie wichtig halten Sie es für unser Leben, genau über unsere Vorfahren und Herkunft Bescheid zu wissen?
Für mich war es sehr wichtig, meine leiblichen Eltern kennenzulernen. In der Pubertät war ich fast besessen davon, sie zu finden und zu treffen. Ich wollte einfach wissen, wie sie aussehen, wie ihre Stimmen sind, ihre Ausstrahlung, ich wollte hören, warum es dazu gekommen ist, dass sie mich weggeben mussten. Die Frage „Warum“ geisterte als Kind doch viel in meinem Kopf herum. Nachdem ich sie kennengelernt hatte, konnte ich innerlich loslassen. Vor zwei Jahren nahm ich noch einmal Kontakt mit der leiblichen Mutter auf und traf mich mit ihr; mit ein Grund dafür war, dass ich einige Sachen bezüglich Krankheiten in der Familie wissen wollte.
Einer Ihrer schönsten Dialoge lautet: „Rette mich“, sagte er. „Wenn du mich auch rettest“, antwortete sie.
Die Charaktere Thomas und Magdalena sind beide schwer traumatisiert –
Thomas‘ große Liebe Greta hat ihn und die gemeinsamen Kinder verlassen, Magdalenas Hochzeit ist geplatzt, weil sie ihren Sohn verheimlicht hat – und fühlen sich verloren, suchen in jeweils dem anderen den Rettungsanker. Thomas ist völlig hilflos mit den Kindern und dem Haushalt und bittet Magdalena: „Rette mich“, während er mit drei brüllenden Kindern in einer überschwemmten Küche steht. Magdalena ergreift diesen Hilferuf spontan mit beiden Händen, antwortet: „Wenn du mich auch rettest“, weil sie intuitiv spürt, dass sie an Thomas‘ Seite „heilen“ kann. Und lange Zeit ist es auch wirklich so, dass jeweils einer der Rettungsanker für den anderen ist.
„Du hast mir nichts zu sagen, du bist nicht meine Mutter!“, sagt einer Ihrer Protagonisten einmal. Dies ist ein Satz, der voller Schmerz steckt und der vermutlich doch auch in der Realität sehr häufig ausgesprochen wird. Schreit dieser Satz nicht vor Ungerechtigkeit?
Oh ja, natürlich schreit der Satz vor Ungerechtigkeit! Und in Zeiten der Patchworkfamilien schreit er noch lauter; die klassische Familie mit Vater, Mutter und Kindern gehört vielfach der Vergangenheit an. Magdalena zieht diese drei Kinder groß, als wären es ihre eigenen, sie lebt quasi den Begriff Commitment mit Hingabe und Einsatz. Dem pubertierenden Oliver wird erst als Erwachsener bewusst werden, wie sehr er Magdalena damit verletzt hat. In ihm selbst steckt der große Schmerz, von der eigenen Mutter verlassen worden zu sein, er hat das ja bewusster erlebter als seine jüngeren Schwestern.
„David“ ist ein Familienroman, der sich über drei Generationen erstreckt, der sich mit all den großen Lebensthemen – etwa Tod und Liebe – beschäftigt. Was bedeuten Ihnen persönlich Ihre Familie und Ihre Liebe?
Alles.