Berlin war Franz Kafkas neue Heimat und der Traum vom Paradies
Berlin war die Stadt, in der der frühpensionierte Kafka den kurzlebigen Wunsch vom erfüllten Leben realisieren konnte: Schriftstellerei samt der Beziehung zu einer ebenbürtigen Frau. Seit 1910 kokettierte Kafka mit der Vorstellung von der belebten Metropole als neue Heimat. Nicht einmal der traumatisierende Entlobungsprozess von Felice Bauer im Askanischen Hof konnte dies mildern.
Lamping gibt Einblicke in die Berliner Politik und Kultur des Krisenjahrs 1923
Trotz der Wirtschaftskrise, Hitlers Putschversuch, der Verbreitung von Seuchen, Kafkas weit fortgeschrittener Tuberkulose und den Konflikten mit der Vermieterin, betrieb der 39-Jährige eine Art Literatursalon und fungierte als Literaturvermittler. In den suburbanen Idyllen von Steglitz und Zehlendorf bezog Kafka mit seiner um 17 Jahre jüngeren Lebensgefährtin Dora Diamant (geb. Dymant) Quartier.
Anekdoten aus Franz Kafkas Leben versüßen die Lektüre
Dieter Lamping greift amüsante Anekdoten auf: Kafka soll in Berlin die „Puppenbriefe“ entworfen haben. Seine Begegnung mit einem Mädchen, dem die Puppe abhandengekommen war, bewegte den Prager zu einer rührenden Korrespondenz, in der er sich für die Puppe des Mädchens ausgab. Handelt es sich um einen verschollenen Briefroman? Ergaben die Puppenbriefe für Kafka, der sich bei einem Kuraufenthalt in Müritz der Anwesenheit von Kindern erfreute und Dora kennenlernte, eine Möglichkeit, in die Vaterrolle zu schlüpfen? Bei einem seiner Literaturabende soll Kafka einen Text von Franz Werfel so verrissen haben, dass dieser weinend aus Kafkas Wohnung stürmte. Doch das Schicksal rächte sich: Werfel war der Autor, von dem Kafka den letzten Roman seines Lebens las – „Verdi – Roman der Oper“.
Dora Diamant war Kafkas erste, nicht erschriebene Partnerin
Dora Diamant war laut Lamping die einzige Partnerin in Kafkas Leben, die er sich nicht durch Briefe vom Leib hielt. Gelegentlich gestattete er Dora – einer rebellischen, kommunistisch gestimmten Schulabgängerin, die er bei einem Sabbat kennenlernte, deren Hebräischkenntnisse, Hingabe zum Zionismus sowie deren Durchsetzungsfähigkeit gegen ihren Vater er schätzte – bei seinen kreativen Schaffensphasen anwesend zu sein. Über eine Zusammenarbeit oder Hommagen an Dora sei jedoch in Kafkas Oeuvre nichts verbürgt – sofern ein Teil des Nachlasses nicht durch die Nazis beschlagnahmt wurde. Neben der körperlichen Betreuung unterstützte sie auch Kafkas Schriftstellerwunsch.
Führten Kafka und Diamant eine „unvollendete“ Ehe?
Nach Kafkas Tod, der Flucht vor zwei totalitären Regimen und der Ermordung ihres Ehemannes, eines KPD-Funktionärs, verdingt sich Dora neben ihren aktivistischen Arbeiten als Schauspielerin, Journalistin und Kulturvermittlerin. Obwohl sie Kafka nicht heiratete, nahm sie eine Zeitlang den Doppelnamen Diamant-Kafka an – eine Vermarktungsstrategie oder ein Zeichen der reuevollen Liebe?
Dieter Lamping skizziert Berlin als Geburtsort des „Hungerkünstlers“
Dieter Lamping rekonstruiert die Anfänge von Kafkas literarischen Durchbrüchen und seine Berliner Netzwerke. In Texten wie „Der Hungerkünstler“ oder „Der Bau“, käme z. B. das Problem der künstlerischen Existenz und der Selbstzweifel, das den nur mehr knapp 40 kg Wiegenden zermürbte, am deutlichsten zur Sprache.
„Anders leben“ ist ein schöner Auftakt zum Kafka-Jubiläumsjahr 2024
„Anders leben – Franz Kafka und Dora Diamant“ ist ein schöner Auftakt zum Kafka-Jubiläumsjahr, da Dieter Lamping – unter Bezug auf die Biografen Kathi Diamant und Reiner Stach – mit Fehlvorstellungen aufräumt, die teils Max Brod geschuldet seien. Es sind weniger neue Kenntnisse aus Kafkas Leben als eine neue Lesart dieser Kenntnisse, auch wenn der klug gewählte Titel darüber hinwegtäuschen mag.