ISBN 978-3-257-23623-1

ca. 80 Seiten

€ 10,00

Die Krimi-Autorin und Schöpferin von Commissario Brunetti erzählt von einer Begebenheit mit einem italienischen Polizeibeamten beim Zoll von Venedig.

Nur wenige erzählen so witzig über Italiens liebenswerte Eigenheiten wie Donna Leon

Strassenschild in Venedig

Italien hat hervorragendes Olivenöl, phantastische Weine und köstlichen Käse und Schinken. Was Italien nicht hat, ist eine funktionierende Bürokratie. Dass dies manchmal von Vorteil ist, beweist dieser köstliche Essay von Donna Leon, in dem sie von einer wahren Begebenheit erzählt.

Es gibt Zeiten, da ist das Leben in Italien der Stoff, aus dem der Irrsinn ist, da können bürokratische Trägheit oder Inkompetenz einen wild machen. Es gibt Zeiten, da sieht es so aus, als klappe gar nichts und werde auch niemals klappen, und man glaubt allmählich, daß alles, was dennoch geschieht, auf Wunder zurückzuführen ist, denn es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß menschliches Zutun irgendeine Veränderung bewirken kann oder jemals könnte. An manchen Tagen finden Beamte aller Couleur ihre einzige Freude darin, sich querzulegen – dann richten sie ihr Augenmerk unnachsichtig auf den kleinsten Buchstaben eines jeden Gesetzes, jeder Vorschrift. Es werden Versprechen gegeben und nicht gehalten, und Fortschritt will einem als Illusion erscheinen. Aber dann, wie wenn an einem Wolkentag der Wind ganz plötzlich von Süden kommt und die Wolkendecke in Stücke reißt, klart der Himmel auf, und Italien erstrahlt in all seiner ordnungswidrigen, menschlichen Schönheit. Solche Augenblicke sind es, die mich daran erinnern, daß dieses Land trotz all seiner gewaltigen Probleme das einzige ist, in dem ich leben möchte.
Im Spätherbst war ich in den USA und schickte von dort per Luftfracht den kleinen Sekretär meiner Mutter nach Venedig, ein Möbelstück, mit dem ich aufgewachsen war, ihr Geschenk zu meinem sechzehnten Geburtstag. Als er ankam, fuhr ich zur Spedition am Flughafen, wo die Sekretärin mir die Frachtpapiere überreichte und sagte, ich solle damit zum Zoll gehen.
Dort betrachtete ein junger Beamter mit sizilianischem Akzent und
maßgeschneiderter Uniform die Rechnungen und Begleitpapiere, und als er sah, daß ich – aus rein versicherungstechnischen Gründen – einen Wert von 300 Dollar darauf angegeben hatte, rechnete er rasch nach und eröffnete mir, daß ich 280 000 Lire Zoll zu entrichten hätte. Ich erklärte ihm, die eingetragene Summe sei rein fiktiv und der Sekretär habe nur Erinnerungswert. Das schien ihn nicht weiter zu interessieren, und er nannte noch einmal die Summe von 280000 Lire. Ich senkte die Stimme, legte ein rührseliges Vibrato hinein und kniff die Augen zu, als müßte ich an etwas furchtbar Trauriges denken. „Aber er gehörte doch – a mia madre.“
Er blickte auf, als hätte er soeben mit Erstaunen entdeckt, daß jemand, der zum Zollamt kam, eine Mutter haben konnte.
A sua madre?
.“
Er blickte wieder auf das Papier, das ich ihm hinstreckte, aber die Zahlen standen noch immer darauf. Ich fragte, ob es etwas nützen würde, wenn ich den angegebenen Wert des Sekretärs abänderte. Dazu müsse ich, erklärte ich ihm, indem ich auf die Zahlen zeigte, nur den Dezimalpunkt um eine Stelle nach links verschieben und eine Null anhängen. So würden aus den 300 Dollar 30.00 Dollar. Er betrachtete angelegentlich das Papier, ließ sich das soeben Gehörte durch den Kopf gehen, blickte wieder auf und sah mir unangenehm lange ins Gesicht. Unter Kopfschütteln – zweifellos ob der Unverfrorenheit, ganz zu schweigen von der Ungesetzlichkeit meines Vorschlags – nahm er mir dann das Papier ab, entschuldigte sich und ging damit in das Zimmer zurück, aus dem er gekommen war, während ich darüber nachgrübeln durfte, welche Strafe wohl auf Zollbetrug stand und ob man mich auch gleich noch wegen versuchter Beamtenbestechung belangen werde.
Nach ein paar Minuten kam er wieder aus seinem Büro, die Papiere noch immer in der Hand. Ich blickte mit verzagtem Lächeln auf, felsenfest überzeugt, daß ich nun außer den Zollgebühren auch noch für meine kriminellen Absichten würde bezahlen müssen. Da hob er das Papier in die Höhe, und mit einer ebenso galanten wie eleganten Geste riß er es entzwei, der Länge nach.
„Der Sekretär gehörte Ihrer Mutter, Signora, darum gibt es dafür keinen Zoll zu entrichten“, sagte er, und dabei breitete er die Arme aus und ließ die beiden Papierhälften an seinen Händen flattern wie die zerfetzte, in fairem Kampf erbeutet Fahne eines besiegten Feindes.

Dieser Text wurde unter dem Titel „Bürokratie all’italiana“ erstmals abgedruckt in Donna Leons Buch „Mein Venedig“ und übersetzt von Monika Elwenspoek und Christa E. Seibicke.

ISBN 978-3-257-23623-1

ca. 80 Seiten

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