Ist „Wer die Nachtigall stört …“ in Wahrheit nicht ein Kochbuch?
Zweiundfünfzig Gerichte erwähnt Harper Lee in ihrem Erfolgsroman „Wer die Nachtigall stört …“ von 1960. Cara Nicoletti hat sie genau gezählt. Sie verliebte sich als Neunjährige in die jungen Helden Scout und Jem ebenso wie in das im Buch beschriebene Südstaaten-Essen – „oder zumindest in meine Vorstellung davon. Da gab es Knusperbrot und Weintrauben, Brombeertörtchen, eingemachte Pfirsiche, Hickorynüsse, Kirschwein, Limabohnen und einen Kuchen, ,reichlich mit Alkohol getränkt‘.“ Cara Nicoletti bat ihre Mutter, die literarischen Leckerbissen nachzukochen, und wurde mit einer Biscuits-Backmischung abgespeist. Jahre später, als sie während des Literaturstudiums in New York als Bäckerin arbeitete, buk sie die original Südstaaten-Biscuits selbst. Nachzulesen ist ihre mit Schmalz und süß-salziger Sirupbutter verfeinerte Rezeptur in „Yummy Books! In 50 Rezepten durch die Weltliteratur“, in dem Cara Nicoletti ihre Leidenschaften mischt: Literatur und Kochen.
Als Kind versteckte sich Cara Nicoletti in der Fleischerei ihres Großvaters
Aufgewachsen ist sie mit beidem. Als Kind versteckte sie sich in der Fleischerei ihres Großvaters in Boston hinter herabbaumelnden Rinderhälften. Oder sie verschlang auf Milchkisten liegend ein Buch nach dem anderen und erfand Rezepte, die sie hinten auf die Einbände schrieb. Rezepte denkt sich die ausgebildete Konditorin, Köchin und Metzgerin bis heute aus, inspirieren lässt sie sich von Romanen – und wurde so selbst zur Autorin.
In Salingers „Der Fänger im Roggen“ findet Cara ein Lieblingsessen
Sortiert nach Kindheit, Jugend und Studium sowie Erwachsenenalter, beschreibt Cara Nicoletti in ihrer bebilderten Kochbuchbiografie literarische Essenszenen, aber auch, wie die jeweiligen Bücher sie prägten. So findet sie in „Anne auf Green Gables“ die Erklärung für ihre nach dem Tod des Großvaters vor Trauer zugeschnürte Kehle: „Diese Erkenntnis, mit den eigenen Empfindungen und Erfahrungen nicht allein zu sein, ist Teil der gewaltigen Wirkungsmacht des Lesens, vor allem für ein Kind.“ Eine Anleitung für Salzkaramellen mit Schokolade, die so manches Leid lindern, folgt im Anschluss. In J. D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ entdeckt die junge Cara Nicoletti neben dem „Beweis dafür, wie qualvoll, verwirrend und einsam die Jugend sein kann“ dank Holden Caulfield eine ihrer literarischen Lieblingsmahlzeiten: ein Sandwich mit Schweizer Käse und Malzmilch. „Das sei nichts Großes, erläutert Holden, doch die Malzmilch enthalte immerhin Vitamine.“
Mit zunehmendes Alter wird es exquisiter. Weil in ihrem Lieblingsbuch „Stolz und Vorurteil“ die Figuren „beteuern, wie vorzüglich das Abendessen war“, sich Jane Austen aber jegliche Essensbeschreibung spart, füllt Cara Nicoletti die Lücke mit einer selbst erfundenen Weißen Suppe. „Wiedersehen mit Brideshead“ führt zu Blini mit Kaviar, die „Odyssee“ zu Rotweinbrot mit Rosmarin und „Anna Karenina“ zu Austern mit Gurken-Mignonette.
Hannibal Lecter mordet nicht nur – er isst auch durchaus geschmackvoll
Für Hartgesottene ist auch was dabei. Der Cherry-Pie aus Truman Capotes Tatsachenroman „Kaltblütig“ etwa, den Mrs. Clutter kurz vor ihrer Ermordung buk. Oder Crostini à la „Das Schweigen der Lämmer“. Wobei Cara Nicoletti Hannibal Lecters Leib- und Magenspeise entscheidend variiert: Die Leber für die Bohnen-Mousse stammt vom Hähnchen. Am besten verzehren Sie das Amuse-Gueule wie Anthony Hopkins im gleichnamigen Film: „Ich genoss seine Leber mit ein paar Fava-Bohnen, dazu einen ausgezeichneten Chianti.“
Weitere Informationen zur Autorin und ihrem Food-Blog auf: yummy-books.com
Leseprobe von „Yummy Books! In 50 Rezepten durch die Weltliteratur“