Kürzlich war ich bei der Augenärztin. Sie war nicht gut gelaunt, vermutlich der Stress. „Was wollen Sie?“ Wegen Ihres ruppigen Tons und ihres weißen Halbgöttinnenkittels geriet ich unweigerlich ins Stammeln: „Ich … also … wenn ich im Bett … es ist äh … wegen meiner Frau …“ Ehe ich weitersprechen konnte, sagte meine Augenärztin: „Ich bin AUGENÄRZTIN. Wenn es bei Ihnen im Bett nicht klappt, ist das nicht meine Baustelle. Da brauchen Sie Viagra oder eine Sexualtherapie, aber nicht MICH!“
„Schon klar, Frau Doktor“, stotterte ich. „Aber Sie lassen mich ja nicht ausreden.“ Sie hierauf: „Weil Sex vollkommen überbewertet ist. Viel wichtiger ist es, dass Sie sich mit Ihrer Frau gut verstehen, gemeinsamen Hobbys nachgehen, sie vielleicht auch einfach mal nur streicheln – haben Sie Kinder?“ Ich bejahte. „Na also, was wollen Sie dann noch?“
„Es ist wegen meiner Augen.“ Jetzt endlich war es raus. „Was ist mit Ihren Augen?!“ Ich blinzelte. „Seit diesem Jahr sehe ich schlechter. Ich bin jetzt vierundvierzig – und wenn ich im Bett …“ Sofort fiel sie mir ins Wort. „Für was müssen Sie im Bett etwas sehen? Wie lange sind Sie verheiratet?“ Ich antwortete: „Weiß nicht so genau, ein paar Jahre sind es schon.“ Die Augenärztin hierauf: „Na, sehen Sie. In dieser Zeit werden Sie wohl herausgefunden haben, wo die Stellen Ihrer Frau sind …“
Ich unterbrach die Augenärztin wütend: „Jetzt passen Sie mal auf, Sie Quacksalberin! Ja, Sie haben Recht, ich finde die ‚Stellen meiner Frau‘, von denen Sie hier reden, und das sogar im Dunkeln – und auch mit verbundenen Augen – und überhaupt gibt es hier kein Problem; sondern das Problem ist, dass ich manchmal nachts lese, meine Frau aber schlafen will; und dass ich dann nur mit einer Stirnlampe lese, damit sie von der Helligkeit nicht aufwacht; dass aber diese Stirnlampe ein so wahnsinnig schlechtes Licht macht.“ Ich holte kurz Luft. „So, und jetzt kommen wir zu Ihrer – ‚Baustelle‘: Früher war das kein Problem – ich konnte auch bei schlechtem Licht gut lesen. Aber jetzt ist es so, dass das nicht mehr gut geht. Verstehen Sie? Was ich brauche von Ihnen ist also keine Sexberatung, sondern eine Lesebrille verdammt; für nachts im Bett, wenn meine Frau schläft und ich mit der Stirnlampe …“
„Gut, Sehtest“, sagte meine Augenärztin nur. Es war ein Befehl. Sie gab mir eine Karte, die sollte ich vor mein linkes Auge halten und dann sollte ich die Buchstaben, die auf einem Plakat an der Wand gegenüber geschrieben standen, vorlesen. Ich konnte alle vorlesen, auch die ganz kleinen. Danach hielt ich die Karte vor mein rechtes Auge und las noch einmal alle Buchstaben vor. Die meisten hatte ich mir ohnehin gemerkt, aber das nur nebenbei zu der Unsinnigkeit, zweimal dieselben Buchstaben zu verwenden.
Jetzt sah mich die Augenärztin böse an und bellte: „Sie brauchen keine Brille!“ Ich sagte: „Ich brauche wohl eine!“ Sie sagte: „Sie haben doch gerade eben ganz wunderbar alle Buchstaben von der Wand abgelesen!“
„Ja“, erwiderte ich. „Aber wenn ich nachts im Bett lese, dann lese ich keine doofen Buchstaben von Wänden ab, sondern Bücher – spannende, gut geschriebene, aufregende und geniale Bücher!“ Sie zuckte mit den Schultern. „Da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Sie sind viel zu jung und brauchen noch längst keine Lesebrille. Kommen Sie in ein paar Jahren wieder.“
Frustriert verließ ich die Praxis. Im Supermarkt an der Kasse stand ein Ständer mit Lesebrillen. Ich nahm das Woody-Allen-Modell. Als ich es letzte Nacht aufsetzte, um zu lesen, wachte Helena auf und sah mich interessiert an.
Aber das ist eine andere Geschichte.