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Die besorgte Kinderbuch-Leserin Britta K. bekommt eine Antwort.

Venus und die nackte Gymnasiastik

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Ich möchte nun weder die Kapitolinische Venus im römischen Palazzo Nuovo mit der nackten Mutter in meinem jüngst erschienenen Kinderbuch „Juni im Blauen Land“ gleichsetzen, noch den iranischen Präsidenten mit meiner besorgten erwachsenen Leserin Britta K. Aber es gibt hier doch Parallelen, die mich aufwühlen. Die Frage ist: Wieviel künstlerische Nacktheit verträgt ein iranischer Präsident und wieviel davon unsere Kinder?

Sie müssen wissen, dass mich jüngst die besorgte E-Mail bereits erwähnter Britta K. erreichte. Darin schrieb sie, dass sie mein neues Kinderbuch wundervoll finde, denn es erzähle von einer Kindheit wie sie sie allen Kindern wünsche: „In einem Dorf an einem See, mit vielen Tieren und kleinen Abenteuern. Ein bisschen wie Bullerbü in Bayern und so …“ Doch dass in diesem Buch eine Mutter „vorkommt, die nackte ‚Gymnasiastik‘ (auch noch falsch geschrieben!!!) macht und diese Mutter auch noch in Form einer Illustration besonders hervorgehoben wird – also musste das sein?“

Natürlich trifft mich diese Leserinnen-Meinung bis ins Mark und sofort ziehen schreckliche Fragen am Horizont auf: Sind meine 12-jährige Tochter, mit der ich dieses Buch verfasst und diese nackt turnende Mutter erfunden habe, sind also meine Tochter und ich mit unserer Phantasie übers Ziel hinausgeschossen? Muss für Mütter ein generelles Nacktturnverbot gelten? Gilt ein solches Verbot nur in der Literatur oder auch in der echten deutschen Familie? Welche Folgen hat es für das kindliche Gehirn, wenn es sich nackte Mütter vorstellt? Ist das Abi in Gefahr?

Nebenbei sei erwähnt, dass unsere Heldin und Ich-Erzählerin Juni das Turnen ihrer durch und durch harmlosen Mams oberpeinlich findet. Das Thema der Nacktheit wird in unserem Werk also einer kritischen textimmanenten Reflexion unterzogen. Außerdem handelt es sich bei diesem Bild um eines unter über vierzig Illustrationen. Im Verhältnis zu den nackten Müttern überwiegen Zeichnungen von schaukelnden und schleichenden Kindern, pupsenden Ponys und Krokodilen, die durch Feuerreifen springen. Und schließlich sei erwähnt, dass das Wort „Gymnasiastik“ nicht falsch geschrieben wurde, sondern sich darin die Lust unserer Heldin Juni am Wortverdrehen und Spielen mit Wörtern widerspiegelt „(!!!)“. Juni ist eine besondere Kinderbuchheldin für besondere Kinder.

Die Umfragen unter kindlichen Lesern ergeben, dass sie die nackte Mams furchtbar lustig finden. Manche finden sie auch genauso peinlich wie die Juni in der Geschichte. Man kann sagen, dass unter den Befragten kaum Spuren etwaiger Traumatisierungen festzustellen sind. Es überwiegt das kindliche Kichern. Zumal man in dem Buch von Mutters Nacktheit ja so richtig auch nichts sieht oder erfährt, außer eben dass diese skurrile Mams glaubt, dass Nacktsein ihrer Haut gut tut. Mann, Mann, Mann, was es nur für verrückte Mütter gibt!

Weil meine Tochter Jona und ich unsere Leserinnen und Leser lieben – und zwar jeden einzelnen für sich – sind wir nun dennoch nachdenklich geworden. Sollen wir in der zweiten Auflage der nackten Mams ein Tuch überwerfen? Womit wir zur eingangs erwähnten Venus von Rom kommen: Für den kürzlich erfolgten Staatsbesuch des iranischen Präsidenten wurde, aus Rücksicht vor seinen religiösen und sonstigen Gefühlen, die wunderschöne Venus in einer Sperrholzkiste versteckt. Was dazu führte, dass der iranische Präsident durch eine Ausstellung von Sperrholzkisten wandelte. Was wiederum zur Folge hatte, so berichtet es die Süddeutsche Zeitung, dass Italiens wichtigster Kunstkritiker harte Worte auspackte. Vittorio Sgarbi sagte, die Protokollleute hätten den Präsidenten „wie den letzten Barbaren behandelt … wie einen Rohling, von dem sie in ihrer Ignoranz annahmen, dass er es nicht ertragen würde, eine nackte Schönheit aus der römischen Zivilisation anzusehen.“ Der Präsident hat übrigens in Glasgow bis zum Doktorgrad studiert und man kann davon ausgehen, dass er in diesen Jahren nicht nur nackte Frauen aus Marmor gesehen hat, sondern auch welche aus Fleisch und Blut.

Was bedeutet das für uns? Sollen wir unsere kindlichen Leser wie Barbaren behandeln und Mutter Rosenglück in einen Holzkasten stecken? Oder trauen wir ihnen zu, dass sie eine unbekleidete Mams als das sehen, was sie ist: eine fast ganz normale Mutter, über die man manchmal lacht und die ganz oft peinlich ist? Sollten meine Co-Autorin und ich nun nicht ganz schnell von Deutschlands Kunstkritikern Rückendeckung bekommen, wird die nackte Mams wohl zukünftig verhüllt oder im Sperrholzkasten turnen. Für die glücklichen Leser, welche die erste Auflage unseres Kinderbuchs ergattern können, bedeutet dies, dass sie zu den wenigen zählen werden, die das Original besitzen: die Venus vom Blauen Land.

P.S.: Wir freuen uns über den großen Zuspruch, den unser Buch bekommt. Wer uns live erleben möchte, kann dies im Laufe der nächsten Monate u.a. in der Buchhandlung Netzer in Lindenberg, in der Buchhandlung Gattner in Murnau, in der Buchhandlung Lehmkuhl in München, im Hort der Deutschen Botschaftsschule Peking und an vielen anderen Orten tun. Wir bringen zur Lesung übrigens ein Akkordeon mit, auf dem ich spielen werde. Man wird kichern und vielleicht wird es sogar ein bisschen peinlich, hihi.

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<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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