Warum nicht zu Fuß nach Europa gehen?, fragt sich ein Flüchtling in Afrika
Die Hungrigen und die Satten. Der Titel von Timur Vermes‘ Roman ist fein ausgewählt. Denn zutreffender kann man den Kernkonflikt des Werks nicht in ein Bild fassen: „Die Hungrigen und die Satten“ erzählt, wie die Hungrigen Afrikas genug davon haben, am satten Europa nur über die Medien teilzuhaben. Sie wollen auch in die reichen Länder des Nordens. Allerdings sind sie nicht mehr bereit, dazu auf Schlauchbooten ihr Leben zu riskieren. Es muss doch auch anders gehen: zu Fuß!
Schon bald brechen 150.000 Flüchtlinge auf – zu Fuß auf dem Landweg
Die Geschichte von „Die Hungrigen und die Satten“ beginnt in einem riesigen Flüchtlingslager in Nordafrika. Hier kommt einem der auf eine bessere Zukunft Hoffenden eine Idee: „Ich kann mir keinen Schlepper leisten”, sagt er zu seinem Gesprächspartner, “weil ich nicht genug Geld habe. Aber ich habe Zeit. Ich habe jede Menge Zeit. Ich sitze seit eineinhalb Jahren hier. Wenn ich jeden Tag nur zehn Kilometer gelaufen wäre, dann wäre ich fünftausend Kilometer weiter.“ Kurze Zeit später macht er sich, begleitet von 150.000 anderen Flüchtlingen, auf den Weg nach Europa. Zu Fuß. Auf dem Landweg. Der Beginn eines irren Abenteuers.
Timur Vermes beschreibt faszinierend genau und erschreckend realistisch
Was sich zunächst verrückt anhört, funktioniert in Timur Vermes‘ beeindruckender Phantasie. Es ist faszinierend, wie der Autor bis ins Detail die Logistik des Flüchtlingstrecks beschreibt; ein Treck, der im Laufe der Reise bis auf 400.000 Flüchtende anwachsen wird. Wenn man seine Beschreibungen liest, ertappt man sich regelmäßig dabei zu denken: Ja, wieso ist da noch keiner der Leute aus Afrika draufgekommen? Dass man die Hungrigen, wenn sie nur viele genug sind, und wenn sie nur friedlich genug daherkommen – zum Beispiel indem sie stets Kinder und Frauen in ihren Badelatschen vorausschicken – dass man diese Flüchtlinge dann eigentlich kaum wird aufhalten können? „Die Hungrigen und die Satten“ ist in dieser Hinsicht also sehr realistisch.
„Die Hungrigen und die Satten“ – eine gigantische Völkerwanderung
Timur Vermes hat es aber nicht bei diesem realistischen Szenario belassen. Sein Roman ist nicht nur die Beschreibung einer gigantischen Völkerwanderung. Er erzählt seine Geschichten nämlich auch noch aus den Perspektiven einiger anderer Figuren: jener, die in Europa sitzen und die Flüchtlinge kommen sehen. Schritt für Schritt. Zuverlässig wie ein Uhrwerk. Und hier wird es nun satirisch.
Timur Vermes legt die Verlogenheit seiner Protagonisten schonungslos frei
Wenn Timur Vermes die Gedanken diverser Bundesinnenminister aus Bayern und anderer Politiker schildert, nähert er sich an die humoristische Qualität seines wahnsinnig komischen Debütromans „Er ist wieder da“ an. Man muss immer wieder lachen, wenn man die teils abgeschmackten Gedanken der politischen Entscheider in Deutschland liest. Skrupellos legt Timur Vermes die opportunistischen Seiten all dieser Figuren frei. An vielen Stellen wird auf diese Weise offenbar: Es geht den Politikern nicht um die Menschen in Afrika, es geht ihnen auch nicht um die Menschen in Europa. Es geht ihnen weder um die Hungrigen noch um die Satten. Es geht ihnen allein um den Erhalt ihrer politischen Macht. Und dafür ist den Mächtigen fast jedes Mittel recht – wie im Übrigen der Schluss von „Die Hungrigen und die Satten“ auf allzu erschreckende Weise illustriert. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Die Figur Nadeche Hackenberg kann man irgendwann nur noch verabscheuen
Neben der hohen Politik bekommen auch die Medien, insbesondere die Fernsehleute und People-Journalist*innen, ihr Fett ab. Herausragendste Vertreterin dieser Gruppe ist die TV-Moderatorin Nadeche Hackenberg, die sich im Laufe des Romans in den Anführer der Flüchtlinge verliebt und mit ihm und den Hunderttausenden zu Fuß nach Europa wandert. Nadeche Hackenberg zeichnet Timur Vermes in ihrer selbstverliebten Unterbelichtetheit mit derart feiner Niederträchtigkeit, dass man diese Fernseh-Tussi schon bald nicht mehr ertragen kann. Man ist geradezu erleichtert, als im Verlauf der Geschichte der Fokus von dieser nervigen Person genommen wird.
Auch der People-Journalismus bekommt sein Fett ab
Herrlich sind auch die Zeitungsartikel, die Timur Vermes der in den Flüchtlingstreck eingebetteten Journalistin Astrid von Roëll in die Tastatur tippt. Die erbärmliche Astrid von Roëll ist nur dazu da, über Nadeche Hackenberg zu berichten. Timur Vermes parodiert so perfekt den schleimigen Tonfall sogenannter People-Magazine, dass es schier nicht zu ertragen ist. Das sprachliche Einfühlungsvermögen, das der Autor hier zeigt, ist umwerfend. Gekonnt entlarvt er die perfiden Erzählmechanismen dieser Art von Schreibe. Tatsächlich liest sich das alles aber mitunter so widerlich realistisch, dass die Lektüre nicht unbedingt ein Genuss ist.
Und wie gut ist „Die Hungrigen und die Satten“ nur wirklich?
„Die Hungrigen und die Satten“ ist eine gelungene Satire, die nachdenklich stimmt. Es ist ein Roman, der perfekt in unsere Zeit passt und die Verlogenheit vieler Stimmen, die sich tagtäglich in den Medien ausbreiten, entlarvt. Dennoch reicht „Die Hungrigen und die Satten“ nicht an die absurde Heiterkeit von „Er ist wieder da“ heran. Dies mag mehrere Gründe haben: Zum einen ist die Dramaturgie einfach durch die Tatsache, dass die Flüchtlinge „nur“ zu Fuß und damit sehr langsam unterwegs sind, sehr statisch. Da bieten sich auch für einen meisterlichen Satiriker wie Timur Vermes irgendwann nur noch wenige Spielmöglichkeiten. Zum anderen scheint es für uns als Leser leichter zu sein, über eine Massenmörder-Satire zu lachen, über einen Hitler, der schon über 70 Jahre tot ist, als über ein ganz reales Problem, das uns Tag für Tag aus dem Fernsehen und den Sozialen Medien entgegenspringt.