Wie krank ist das denn?, habe ich mir gedacht, als ich zum ersten Mal vom Slow Reading hörte. Man setzt sich mit anderen in ein Café, um schweigend Bücher zu lesen. Jeder sein eigenes. Um einen Kontrapunkt zu setzen gegen das permanente Rumgewische, Gesimse und Gequatsche. Und weil es vielen Menschen nicht mehr gelingt, sich nur auf ein Buch zu konzentrieren. Weil es zu viele Ablenkungen gibt. Weil nirgends Ruhe ist, Stille, Konzentration.
Wie krank ist das denn?, habe ich mir also gedacht. Und mich dann selber mal beim Lesen beobachtet: Der einzige Zeitpunkt des Tages, an dem ich tatsächlich ungestört, konzentriert und länger am Stück lese, ist der späte Abend; wenn die Kinder im Bett sind, die Küche mehr oder weniger aufgeräumt ist und ich mir im Bett mein Kopfkissen unter die Brust schiebe (ich bin nämlich Bauchleser) – und ein Buch aufschlage. Egal wann ich sonst lese, werde ich immer unterbrochen – von E-Mails, Telefonanrufen, dem Paketboten, meinen Kindern. Während ich diese paar Zeilen geschrieben habe, war ich zweimal „weg“, um – Pling! – eine neu eingegangene E-Mail zu beantworten. Wir lassen uns ständig von irgendetwas drausbringen. Ja, unser Leben ist das Gegenteil von Schweigekloster.
Andererseits beobachte ich morgens in der U-Bahn zahllose Menschen mit Büchern oder eReadern in der Hand, die anscheinend total vertieft sind in ihre Lektüren. Es gibt sie noch, die Leser. Ich schreibe nicht „die guten“, weil jedes Lesen gut ist. Auch das häppchenweise Lesen zwischen dem Wischen. Bei Slow Reading stört mich, nachdem ich darüber nachgedacht habe, vor allem das englischsprachige Wort, das ja obendrein noch einen falschen Eindruck erweckt: Die Leute, die sich im Café treffen, lesen ja gar nicht langsam. Sondern schweigend und konzentriert. Teilnehmer solcher Lesesitzungen berichten von wesentlich intensiveren Lektüreerlebnissen. Die Literatur gewinne an Kontur und Klarheit, man nehme mehr von ihren Stärken und Finessen wahr.
Mich erinnert das ein bisschen an den Kurs in autogenem Training, den ich als Schüler in den 80er Jahren bei der Volkshochschule mitgemacht habe: Wir saßen im Kreis, jeder auf einem Stuhl, die Hände auf die Oberschenkel gelegt. Wir schlossen die Augen. Der Kursleiter, barfuß in Birkenstock-Sandalenschlappen – heute würde man ihn Coach nennen – entführte uns mit seinen Worten auf eine Reise durch unseren Körper. Ich war total dabei. Nach einer Weile forderte er uns auf, vorsichtig die Augen zu öffnen, ganz slow. Ich spürte meinen Körper wie ich ihn noch nie zuvor gespürt hatte. Ich fühlte mich, als hätte ich geschwebt, als wäre ich aus Watte. Und – ich konnte es kaum glauben: Es waren 40 Minuten vergangen!
Ich habe das lange nicht geglaubt, sondern für esoterischen Hokuspokus gehalten, aber es ist so: Wenn viele Menschen sich auf dieselbe Sache konzentrieren, potenziert sich die Energie im Raum. Slow Reading hat also Sinn, denn es macht das Literaturerlebnis schöner. Wobei ich persönlich finde, wenn man sich schon mit anderen trifft, dann wäre es doch noch toller, das Gleiche zu lesen, sich einander laut vorzulesen, und danach darüber zu sprechen. Aber zum einen ist dies natürlich kein cooler neuer Trend mit Bart, sondern das gab es schon in den Musenhöfen Friedrichs II. und in den literarischen Salons des 19. Jahrhunderts. Zum anderen passt es nicht in unsere Welt, in der Individualität über allem steht. Schade eigentlich.
P.S.: Wer möchte, kann ein intensives Literaturerlebnis, bei dem einige Leute vorlesen, viele zuhören und manche lachen, demnächst in Schwabmünchen erleben: Am 12. November in der Buchhandlung Schmid. Ich werde übrigens auch da sein.