![Titelbild Noch wach?](https://buchszene.de/wp-content/uploads/2023/05/titelbild-noch-wach-1024x534.jpg)
Erfährt man in „Noch wach?“ mehr über die Vorgänge in der BILD-Zeitung?
Die meisten werden Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ lesen, weil sie wissen, dass der Roman direkt von den Geschehnissen in der Redaktion der BILD-Zeitung unter Leitung des ehemaligen BILD-Chefredakteurs Julian Reichelt inspiriert ist; und weil sie hoffen, durch die Lektüre mehr über die mutmaßlichen machtmissbräuchlichen Vorgänge bei der Boulevardzeitung zu erfahren. Die Frage ist, ob das Buch nur wegen seiner Nähe zur Realität spannend ist oder ob es vielleicht auch als literarisches Werk mit allgemeingültiger Aussage bestehen kann.
Der Ich-Erzähler wird zur Anlaufstelle für missbrauchte Frauen
Erzählt wird die Geschichte aus Sicht eines Ich-Erzählers, der zwischen Berlin und Los Angeles pendelt und über eine Freundin davon erfährt, dass der Chefredakteur eines Boulevard-Fernsehsenders seine Position ausnützt, um sehr junge Mitarbeiterinnen ins Bett bekommen. Im Laufe des Romans wird der Erzähler zu einer Anlaufstelle für alle Praktikantinnen, Jungredakteurinnen und Nachwuchsmoderatorinnen, die ihm erzählen, wie sie vom Chefredakteur ausgebeutet wurden. Dass er zur Ansprechperson wird, ist nicht vollständig nachvollziehbar, hat aber mit seiner Freundschaft zum Chef des Konzerns zu tun, zu dem der Boulevard-Fernsehsender gehört. Die Frauen hoffen, über den Freund des Konzernchefs zu erreichen, dass sich in dem Fernsehsender etwas zum Besseren ändert. Da der Erzähler immer wieder im legendären Hotel Chateau Marmont in Hollywood absteigt, verfolgt er auch die #metoo-Fälle in der amerikanischen Filmindustrie mit.
Der Chefredakteur ist ein Manipulator, der keine Skrupel kennt
Die Geschichten der jungen Frauen vom Berliner Boulevard-Sender ähneln sich: Zunächst umgarnt der Chefredakteur sie, indem er ihre Arbeit und ihr Aussehen lobt und ihnen verspricht, sie beruflich groß rauszubringen. Er verfügt über hohe manipulative Fähigkeiten und so verlieben sie sich in ihn und stehen ihm sexuell zur Verfügung – dies sowohl tags als auch nachts, worauf auch der Romantitel „Noch wach?“ anspielt. Nach einiger Zeit verliert der Chefredakteur das Interesse an ihnen oder sie stellen fest, dass sie nicht die einzigen sind, mit denen er sexuell verkehrt und denen er Versprechungen gemacht hat. Sobald sie sich von ihm abwenden oder er von ihnen, macht er sie fertig.
Natürlich denkt man bei der Lektüre ständig an Döpfner und Reichelt
Natürlich lässt sich beim Lesen nicht verhindern, dass man ständig an Ex-BILD-Chef Julian Reichelt und Springer-Chef Mathias Döpfner denkt, obwohl doch von einem Fernsehsender die Rede ist. Dennoch erlangt die Geschichte im Laufe der Zeit eine gewisse Unabhängigkeit von den realen Verhältnissen. Denn es gelingt Benjamin von Stuckrad-Barre schon sehr gut zu beschreiben, wie Unterdrückung, Manipulation und Machtmissbrauch in beruflichen Beziehungen ganz praktisch funktionieren. Und die Zustände, die er beschreibt, sind derart haarsträubend und gleichzeitig glaubwürdig, dass ein Spannungssog entsteht.
Benjamin von Stuckrad-Barres Roman wirkt hastig zusammengeschrieben
Insgesamt wirkt der Roman hastig zusammengeschrieben. Es ist ein Stück Literatur, das sich liest wie auf Koks. Dazu trägt auch Benjamin von Stuckrad-Barres Freude an umgangssprachlichen Wendungen, Anglizismen und Slang sowie an kreativ zusammengesetzten Wörtern und Wortneuschöpfungen bei – sei es der „Schmidt-Show-Witzeschreiberkombüsentrakt“, das „Livingthedream-metime-powerfulfriend-amazing-connection-lowcarb-selfcare-gorgeous-nicetomeetyou-Soufflé“ oder das „Social-Media-Stellungskriegritual“. Hier hat einer Freude am Wörterbasteln und da kommen mitunter wirklich beeindruckende Schöpfungen heraus.
Sex und Macht und einige so hässliche wie niederträchtige Charaktere
„Noch wach?“ ist gut beobachtet und fasst in etliche offene gesellschaftliche Wunden. Mitunter fragt man sich, wieso die ganzen missbrauchten jungen Frauen sich ausgerechnet einen Mann, also den Erzähler aussuchen, um sich helfen zu lassen und welche Rolle dieser genau spielt. Es ist ein ernster Roman und damit ganz anders als Benjamin von Stuckrad-Barres Udo-Lindenberg-Hommage „Panikherz“. Aber es ist ein Werk, das zur richtigen Zeit erscheint und die Diskussionen darüber, wie mit Macht und Sex in beruflichen Beziehungen umzugehen ist, weiter anheizen wird. Mit Spannung darf man erwarten, ob es Klagen diverser prominenter Personen geben wird, die sich in diesem Roman wiederzuerkennen glauben. Gerade der Chefredakteur und der Konzernchef werden als derart hässliche und niederträchtige Charaktere beschrieben, dass man sich kaum vorstellen kann, dass ihre realen Vorbilder sich das bieten lassen werden.