Warum geht das Leben so schnell vorbei?
Jüngst fragte mich mein Sohn, wieso das Leben so schnell vorbeigeht. Wir lagen gerade im Bett, es war der Abend seines zehnten Geburtstags. Und ich zog die Stirn in Falten. Was bringt einen Zehnjährigen dazu, sich Gedanken zu machen, die vielleicht seinen Vater – oder eher noch – seinen Großvater beschäftigen könnten? Ich weiß nicht mehr, wie ich mich aus der Affäre zog, ich hatte zwei Gläser Rotwein getrunken, ich war müde, vielleicht war ich sogar einige Minuten bei ihm im Bett eingeschlafen. Nach mir ging Helena zu Leonhard, um ihm Gute Nacht zu wünschen. Sie kehrte mit einem Zettel zurück, den sie mir in die Hand drückte. Der Satz war in ihrer Handschrift verfasst:
Was bedeutet Unendlichkeit? Dass man das Ende nicht findet?
„Mir scheint, dass der Begriff ‚Unendlichkeit‘ nur bedeutet, dass man das Ende nicht findet“, stand da. Das habe Leonhard eben geäußert, sie hätten sich über Endlichkeit und Unendlichkeit unterhalten. Sie habe das notiert, damit sie es nicht vergäße. Das sein doch erstaunlich. Ich rümpfte die Nase: „Wieso unterhaltet ihr euch über solches Mistzeugs? Der Kerl ist gerade erst zehn geworden. Der soll Fußball spielen. Als ich zehn war, wusste ich gar nicht, dass es mich gibt, und der schwadroniert da was von Unendlichkeit. Das geht so nicht weiter!“ „Wenn es so nicht weitergeht“, meinte Helena, dann wäre dies tatsächlich und ganz konkret ein Fall von Endlichkeit und von daher zum Thema passend. Ob ich denn ein Fan der Endlichkeit sei? Ob ich denn nicht möglichst lange leben wolle, denn darum gehe es hier ja wohl letztendlich? Sie nahm auf meinen sich verfinsternden Blick keine Rücksicht, sondern fuhr fort: Im Übrigen könne man Endlichkeit von Elternseite aus auch nicht einfach verordnen. Sie ergebe sich doch wohl eher von der Natur her. „Was ist denn jetzt das für ein blödes Gespräch!“, entfuhr es mir. Mich von ihr abwendend schlug ich den Spiegel auf.
Was, wenn man Kinder fragt: Welches Leben willst du führen?
Auf der letzten Seite des Nachrichtenmagazins, im sogenannten Hohlspiegel, einer Ansammlung unsinniger, weil meist fehlerhafter Zitate aus der echten Welt, war eine Stellenanzeige abgedruckt: „18jähriger mit 40 Jahren Berufserfahrung sucht neuen Wirkungskreis.“ Genau, dachte ich mir. Genau so ist das heute: Die Kinder sind keine Kinder mehr. Sie sind kleine Erwachsene. Und das hat mit Leuten wie mir zu tun, den Eltern. Weil wir unsere Kinder aus der Sorge heraus, sie könnten einmal nicht Fuß fassen in der Gesellschaft, von klein auf zur Reflexion über ihre eigene Zukunft zwingen. Dabei wenden wir eine perfide Methode an – wir tun so, als läge die Freiheit zu entscheiden, bei den Kindern selbst: „Natürlich musst du dich für diese Schulaufgabe, diesen Test nicht anstrengen, wenn du keine Lust dazu hast. Aber überleg mal: Willst du später so ein glückliches Leben führen, wie wir es heute führen? Mit einer spannenden Arbeit und viel Urlaub?“ Welches Kind würde da antworten: „Nein, ich möchte lieber ein unglückliches Leben führen, mit einer langweiligen Arbeit und keinem Urlaub.“
Die Sommerferien sind unendlich lang – dieses Gefühl kennen wir alle
Was tun? Nun, es liegen die Sommerferien vor uns. Ich erinnere mich an meine eigene Kindheit. Und ich nehme mir etwas vor: Wenn es mir schon nicht gelingt, meinem Sohn etwas Handfestes, Erfreuliches, Mutmachendes über das Verhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit zu sagen, so soll er wenigstens ein Gefühl bekommen: Dass diese Ferien nun wirklich unendlich lang sind. Um diese zu erreichen, werden wir uns nicht darüber unterhalten, was für ein Leben er einmal führen will oder soll. Sondern wir werden uns mit dem Jetzt beschäftigen: mit Schwimmen, Fußballspielen, Eisessen und Bücherlesen.
P.S.: Als ich, alarmiert durch Leonhards Nachdenken über die Verlogenheit der Unendlichkeit, mit seiner größeren Schwester Elsa das Thema anschnitt, sagte sie mit genervtem Gesichtsausdruck und ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken: „Wann gibt es endlich Abendessen?“