In Venedig kann man sich nicht nur verlieben, man kann sich auch verlaufen. Die Schriftstellerin Donna Leon, die seit vielen Jahren in Venedig lebt, erzählt wie es ihr selbst einmal passierte, dass Venedig für Sie zum Labyrinth wurde.
Wie wenig und wie schlecht ich mich früher, so vor dreißig Jahren, in Venedig auskannte, wurde mir bewußt, als ich einmal bei Freunden von Freunden zum Essen eingeladen war. Durchaus nicht zum ersten Mal, nur hatten mich bisher immer meine Freunde Roberta und Franco mitgenommen, als ihren ausländischen Gast sozusagen. Dank ihrer kundigen Führung blieben mir lästige Orientierungsfragen wie: Wo geht’s nach rechts, wo nach links, erspart: Ich brauchte nur zu folgen. Sie waren die Haie, ich der Lotsenfisch in ihrem Kielwasser.
Diesmal aber hatte ich mich, warum weiß ich nicht mehr, allein auf den Weg gemacht. Und mich prompt verlaufen. Die Gastgeber wohnten nicht weit vom Campo San Giacomo dell’Orio, rechterhand am Ende jener kleinen Gasse, die zum Canal Grande führt. Soviel wußte ich immerhin, und auch, daß Francos Vater im Zweiten Weltkrieg beim Fischen mit einem Nachbarn, der im Haus gegenüber von dem, das ich suchte, im zweiten Stock wohnte, einmal in die Lagune gefallen war.
Zu meinem Pech begann das Essen erst um halb neun, und so war es schon dunkel, als ich, überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein, den Rialto überquerte. Eine Karte? Ich war doch keine Touristin – wieso bitte hätte ich da eine Karte mitnehmen sollen? Ich, die Freundin waschechter Venezianer, folgte einer Einladung anderer Venezianer, wozu also eine Karte?
Eine halbe Stunde später stieß ich endlich auf den Campo San Giacomo dell’Orio und machte mich auf die Suche nach der engen calle hinunter zum Kanal, wo der Mann wohnte, der … Aber die Gassen sahen alle gleich aus. Auch eine Karte hätte mir nicht weitergeholfen, denn ich hatte den Namen der calle vergessen, und die Adresse des Mannes, der dabei war, als Francos Vater in die Lagune fiel, wäre wohl auf keiner Karte verzeichnet gewesen.
Irgendwann kehrte ich unverrichteter Dinge auf den campo zurück und fragte in einer Bar nach der Adresse des Juweliers Giuliano. Meinen Gastgebern verriet ich natürlich nicht den wahren Grund für meine Verspätung, sondern tischte ihnen eine Ausrede auf, bevor wir uns dem ernsten Geschäft des Essens und Trinkens widmeten.
Dieses Vorwort zu Toni Sepedas „Mit Brunetti durch Venedig“, wurde von Donna Leon verfasst und von Christa E. Seibicke übersetzt.