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Die Krimi-Autorin und Schöpferin von Commissario Brunetti erklärt die Schönheit italienischer Opern und ihre Verbindung zum Gesang der Gondolieri Venedigs.

„Eine Gondel ist wie eine Bühne“

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Gondola

© kavalenkava – Shutterstock Bild-ID: 290747540

„Lässt sich eine schönere Bühne denken als eine vorbeiziehende Gondel?“

Noch größer als Donna Leons Liebe zur Literatur ist ihr Faible für Musik. In diesem von ihr verfassten Essay erläutert die Krimi-Autorin und Schöpferin von Commissario Brunetti, was für sie die Schönheit der italienischen Oper ausmacht und wie sie seit Jahrhunderten mit dem Gesang der Gondolieri Venedigs verbunden ist.

Opern waren in Venedig im 17. und 18. Jahrhundert äußerst beliebt beim gebildeten Publikum – und auf dieses zielte diese Kunstform auch ab. Der Adel ganz Europas strömte in die Stadt, um sich in die endlosen Lustbarkeiten des Karnevals zu stürzen, aber auch, um die grenzenlosen Freuden der Oper zu genießen. Doch um das Theater zu besuchen, wo ausgebildete Sänger edle Gefühle in poetischer Sprache deklamierten, musste man Eintritt entrichten. In den Opern tummelten sich die Helden aus der Dichtung und der Tragödie: gute Könige und Königinnen, verruchte Könige und Königinnen, Tamerlan, Richard Löwenherz, Kleopatra. Zwischen ihren Sorgen und Nöten und denen eines gewöhnlichen Bürgers lagen allerdings Welten: Verlust des Königreichs; die Qual der Wahl zwischen Gift und Schwert, um seinem Leben ein Ende zu setzen; das Manövrieren eines von zwei feuerspeienden Drachen gezogenen Streitwagens.
Das gewöhnliche Volk stellte sich unter musikalischer Unterhaltung etwas anderes vor. Und das gedieh außerhalb des Theaters. Es liebte dasselbe, was die meisten Menschen auch heute hören wollen: populäre Musik. Eingängige Melodien. Was aber könnte populärer sein als die venezianischen barcarole, die aus dem Volk entstanden sind, erdacht von und für la gente del popolo und nicht für eine elitäre Zuhörerschaft? Wie ihr Name schon sagt, kommen diese von la barca, dem Boot, auf dem sie gesungen wurden, oft von den Gondolieri selbst, mitunter aber auch von einem Sänger und ein paar Musikanten.
Während die Opern in aufwendigen Kulissen gespielt wurden und die religiöse Musik, für die Venedig ebenso berühmt war, in den Kirchen während der Messe erklang, waren die Barkarolen schlichte Weisen für den Vortrag im Freien.

Lässt sich eine schönere Bühne denken als eine vorbeiziehende Gondel? Wie nebenbei erobert sie immer wieder ein neues Publikum. Ein jeder, der zufällig vorbeikam, konnte der Musik und dem Gesang lauschen, ohne in die Kirche gehen oder für eine Opernkarte zahlen zu müssen – womöglich der erste Gratis-Download in der Geschichte.
Die Sänger erzählten Geschichten aus dem wirklichen Leben, da ging es nicht um Prinzen, Könige und Helden aus der Mythologie, die Feinde und Ungeheuer töteten, um eine holde Prinzessin zu erlösen, sondern um ganz normale Männer und die hübsche Blonde am Ende der calle. Anstatt die Mauern irgendeiner fremden Stadt zu erstürmen, erinnert sich der Sänger an seine Abenteuer mit Freunden auf dem Lido und an den Spaß, den sie dort mit den Mädchen aus der Nachbarschaft, mit Checca, Betta und Catte hatten. Nichts ist so volksnah und wirklichkeitsnah wie diese Lieder. Die Texte spiegeln den Alltag in Venedig wider und den unwiderstehlichen Drang der Venezianer, sich über ernste Dinge lustig zu machen. So wurden zum Beispiel Opernarien geschmettert und mit Versen kombiniert, die so schlicht sind wie das Gesicht des unscheinbaren Mädchens, von dem das Lied handelt. So sehr seine Freunde auch ihre Schönheit preisen, der Sänger vertraut seinem Publikum an, dass die Schmeicheleien wild übertrieben sind und die Schöne eher hässlich ist. Statt einem Prinzen zu lauschen, der schmachtend nach Liebe seine Prinzessin mit Helena oder Venus vergleicht, posaunt ein Fremder aus dem Morgenland, der die einheimische Mundart nicht beherrscht, seine Liebe zu Cattina mit
Tarapatà tà tà tà“ heraus. Ist seine Liebe deshalb weniger echt oder weniger stark? Lieder mit mehr oder weniger verhüllten sexuellen Anspielungen gehören natürlich auch dazu, etwa wenn der Sänger seiner Angebeteten anvertraut, er wisse, dass sie einen Garten besitze, der noch ganz und gar unbestellt sei. Galant bietet er sich ihr als Gärtner an.
Die Verfasser der meisten canzoni sind unbekannt. Doch man musste auch kein berühmter Librettist wie Metastasio sein, um sich Zeilen auszudenken wie „Viele klagen, leer sind die Taschen. Kein Geld im Beutel, um Spaß zu haben“, oder „Viele sagen, dass es schön ist, das Mädchen, das ich kenne. Ich nicht, kann das nicht sagen, denn das ist sie nicht.“ Ein anderes Lied handelt von einem Gesanglehrer, dessen Schülerin ein hoffnungsloser Fall ist. Solche Geschichten liebten die Leute. Selbst heute noch, Jahrhunderte später, horchen die meisten Venezianer erfreut auf, wenn die ersten Töne von La biondina in gondoletta 
erklingen, und singen begeistert mit.

Man stelle sich dieses wunderbare Schauspiel vor: Auf dem Wasser zogen Gondeln vorbei, an Bord Sänger, ein paar Begleitmusiker, ein Liebes- oder Ehepaar, junge Männer auf der Suche nach einem Abenteuer – während Passanten vom Ufer aus ohne falsche Scham und frei von Benimmregeln die Sänger anfeuerten und lautstark ihr Lob oder ihr Missfallen kundtaten. Popolare.
Nicht nur den freien Download kannte man bereits im Musikleben des Barock, sondern auch die Hinwegsetzung über das Copyright. Eine städtische Verordnung gewährte den Gondolieri freien Zutritt zu allen Opernhäusern. Dort konnten sie so lange lauschen, bis ihnen eine Melodie gefiel, die sie sich einprägten oder notierten, um sie, zurück auf ihrer Gondel, auf ihre Weise nachzusingen. Anstatt den Rechtsanwalt zu alarmieren, fühlte sich der Komponist in der Regel geschmeichelt, dass sein Werk, in alle Winde getragen, Verbreitung fand. So wurde er bekannt, und ein Teil des Publikums konnte vielleicht auch eine Eintrittskarte erstehen und sich den Rest der Oper anhören.
Auch Venedigs Besucher waren offenbar von den Gondelliedern fasziniert: Ein Engländer namens John Walsh veröffentlichte nach seiner Rückkehr 1742 einen dicken Band mit venezianischen Liedern. Dabei schrieb er sie allerdings bekannten Komponisten zu wie zum Beispiel Hasse (der immerhin
in Venedig begraben ist) und „anderen gefeierten italienischen Meistern“, zweifellos in dem Bestreben, sie zu adeln. Offenbar wollte er nicht eingestehen, dass es sich um Volksmusik handelte, die aus reiner Freude entstanden war. Geradezu peinlich populär?
Und was wäre populärer als die Klagen einer jungen Frau, die ihrem Herzen Luft macht, weil dasjenige ihres Geliebten schon zahlreichen anderen gehört? Cecilia Bartolis Gesang in dieser Zugabe vereint die Welt der Oper und die der Gondellieder in ihrer ganzen Schönheit.

Dieser Text wurde unter dem Titel „Musica Popolare“ erstmals abgedruckt in Donna Leons Buch „Gondola – Geschichten, Bilder, Lieder“ und übersetzt von Karsten Singelmann. Dem illustrierten Band ist eine CD mit venezianischen Gondelliedern beigelegt, inklusive einer Zugabe von Cecilia Bartoli.

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